Entscheidungsstichwort (Thema)

Recht auf faires Verfahren: Konventionskonforme Berufungsverwerfung eines unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten bei Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers. Bindungswirkung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung ist auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt; sie endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird.

2. Die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Normen findet ihre Grenze insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit und darf daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechtes contra legem dienen.

3. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO kann auch unter Berücksichtigung der Verpflichtung deutscher Gerichte zu konventionskonformer Auslegung nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden.

4. Eine Vertretung des Angeklagten in persona durch den Verteidiger ist in der Berufungshauptverhandlung nur unter den Voraussetzungen von § 411 Abs. 2 S. 1 StPO zulässig.

 

Normenkette

StPO § 329 Abs. 1 S. 1; EMRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. c

 

Tenor

Die Revision wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

 

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts ... vom 24.09.2010 wegen räuberischen Diebstahls und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil wandte sich der Angeklagte mit seinem zunächst unbenannten Rechtsmittel, welches er, nachdem das Urteil des Amtsgerichts am 02.11.2010 zugestellt worden war, am 09.12.2010 - und somit nach Ablauf der Frist zur Begründung der Revision - als Sprungrevision bestimmte.

Der Senat verwarf mit Beschluss vom 13.04.2011 den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Sprungrevision und gab das Rechtsmittel an das Landgericht # zur Durchführung als Berufung ab.

Das Landgericht bestimmte Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 01.11.2012. Nachdem die Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin an den Angeklagten gescheitert war, weil dieser unbekannten Aufenthalts war, ordnete das Landgericht # mit Beschluss vom 06.09.2012 die öffentliche Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung an den Angeklagten an. Nach erfolgter öffentlicher Zustellung erschien zum Berufungshauptverhandlungstermin lediglich der Verteidiger des Angeklagten, der Angeklagte selbst erschien ohne Angabe von Gründen nicht. Auf Antrag des Verteidigers ordnete das Landgericht ihn dem Angeklagten als Verteidiger bei. Nach Feststellung der ordnungsgemäßen Ladung des Angeklagten beantragte die Staatsanwaltschaft, die Berufung nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO zu verwerfen. Der Verteidiger, welcher erklärte, zur Verteidigung des Angeklagten bereit zu sein, trat dem Verwerfungsantrag entgegen und beantragte dessen Ablehnung sowie die Aussetzung der Hauptverhandlung. Das Landgericht verwarf die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen und formellen Rechtes rügt. Er macht mit der Verfahrensrüge geltend, das Urteil verstoße gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c MRK und verletze das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 08.11.2012 (StraFo 2012, 490 ff.) handele es sich bei dem von dem Landgericht angewendeten § 329 Abs. 1 StPO um konventionswidriges innerstaatliches Recht. Die Verwerfung einer Berufung sei hiernach nicht zulässig, wenn zwar der ordnungsgemäß geladene Angeklagte nicht zur Berufungshauptverhandlung erschienen sei, wohl aber durch einen zur Verteidigung bereiten Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung vertreten werde.

II.

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Rüge, § 329 Abs. 1 S. 1 StPO sei nach der Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 als konventionswidriges Binnenrecht anzusehen und dürfe von den Gerichten daher nicht mehr angewendet werden, bleibt ohne Erfolg, denn sie erweist sich als unzulässig (unten 2.).

Der Senat lässt daher dahinstehen, ob die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Falle eines in der Berufungshauptverhandlung durch einen Rechtsanwalt verteidigten Angeklagten gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 MRK verstößt (unten a)). Im Übrigen wäre § 329 Abs. 1 S. 1 StPO auch im Falle der behaupteten konventionswidrigen Handhabung angesichts seines eindeutigen und nicht auslegungsfähigen Wortlautes von den Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) weiterhin anzuwenden (unten b)).

a) Im Verfahren über die Individualbeschwerd...

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