Das Wichtigste in Kürze:

1. Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen.
2. Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund.
3. Auch zu dem Ablehnungsgrund "Vorbefassung" liegt umfangreiche Rechtsprechung vor.
 

Rdn 116

 

Literaturhinweise:

S. die Hinw. bei → Ablehnung eines Richters, Allgemeines, Teil A Rdn 8, und bei → Ablehnungsgründe, Befangenheit, Allgemeines, Teil A Rdn 81.

 

Rdn 117

1. Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat (→ Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 543), nach innerstaatlicher allgemeiner Meinung grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. u.a. BGHSt 24, 336; BGH NJW 2009, 1287 [Ls.]; NStZ 2012, 519 [Gesamtschau]; 2014, 660 m. Anm. Hillenbrand StRR 2014, 444; NStZ 2016, 357; StraFo 2016, 289; Beschl. v. 19.4.2018 – 3 StR 23/18, StraFo 2018, 429 m. Anm. Burhoff StRR 9/2018, 10 [Revisionsverfahren]; NStZ-RR 2018, 252 [Revisionsverfahren]; Beschl. v. 9.1.2018 – 1 StR 571/17; OLG Köln, Beschl. v. 8.4.2013 – 2 Ws 204/13; OLG Oldenburg, Beschl. v. 30.10.2020 – 1 Ws 362/20, StraFo 2021, 21; s. aber EGMR, Urt. v. 16.2.2021 – 1128/17, StV-S 2021, 41 [Ls; Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289) und auch Stange/Rilinger StV 2005, 579, die bei atypischen Vorentscheidungen von Befangenheit ausgehen). Ein Richter ist danach nicht schon allein deshalb befangen, weil er mit dem Sachverhalt bereits befasst war. Denn ein verständiger Angeklagter kann und muss davon ausgehen, dass der Richter sich dadurch nicht für künftige Entscheidungen festgelegt hat. Erforderlich ist eine Gesamtschau (BGH NStZ 2012, 519; BGH, Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; zur "Vorbefassung" als Ausschlussgrund nach § 22 → Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 543 ff. und OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.5.2020 – 1 Ws 140/20, StraFo 2021, 332 m. Anm. Deutscher).

 

Rdn 118

2. Die Rspr. des EGMR sieht/sah hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund (dazu eingehend Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 42 ff.; zur Rspr. des EGMR noch. StrafPrax-Sommer, § 17 Rn 114). Das gilt/galt insbesondere auch für die Beteiligung an (Haft-)Zwischenentscheidungen (dazu EGMR EuGRZ 1993, 122; s. i.Ü. EGMR EuGRZ 1985, 301; zur Begründung der EGMR-Beschwerde EGMR NJW 2007, 3553). Der EGMR scheint aber von dieser Rspr. abzurücken (vgl. EGMR NJW 2011, 3633). Er hat nämlich inzwischen allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche Strafvorwürfe in einem gesonderten Verfahren entschieden hatte, und zwar in einem Verfahren gegen Drogenhändler, nicht ausreichen lassen, Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einem darauf folgenden Verfahren gegen einen seiner Kunden zu begründen (jetzt aber EGMR, Urt. v. 16.2.2021 – 1128/17, StV-S 2021, 41 [Ls; Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289).

 

☆ Den Ablehnungsgrund der Vorbefassung muss der Verteidiger sorgfältig schon bei der →  Vorbereitung der Hauptverhandlung , Teil V Rdn  3944 , und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407 und NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews , Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.)."Vorbefassung" muss der Verteidiger sorgfältig schon bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung, Teil V Rdn 3944, und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407 und NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.).

 

Rdn 119

3. Zum Ablehnungsgrund "Vorbefassung" ist hinzuweisen auf folgende, von der innerstaatlichen Rspr. aufgestellte Grundsätze und Rechtsprechungsbeispiele

 

Allgemeine Vorbefassung Befangenheit verneint

nach h.M. allein deshalb, weil er mit dem Sachverhalt bereits befasst war, denn ein verständiger Beschuldigter kann und muss davon ausgehen, dass der Richter sich dadurch nicht bereits für künftige Entscheidungen festgelegt hat (BGHSt 50, 216, 221; BGH NStZ 2011, 44; 2016, 357; Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; StraFo 2016, 289; NStZ-RR 2016, 17, insoweit nicht in StV 2016, 633; HRRS 2006 Nr....

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