Rz. 186

Wie bei Rdn 184 dargelegt, kann es zur Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Messung erforderlich sein, u.a. auch die vorangegangenen bzw. nachfolgenden Aufzeichnungen (also Aufzeichnungen über andere Verkehrsteilnehmer als den Betroffenen) einzusehen, um feststellen zu können, ob es ggf. bei der gesamten Verkehrsüberwachung zu ­Problemen kam. Die Aufzeichnungen, die nicht den Mandanten betreffen, sind dann zu anonymisieren (zum Akteneinsichtsrecht in einen Messfilm/eine Messserie LG Neubrandenburg, VA 2015, 208; AG Cottbus, VRR 2009, 118 = StRR 2009, 146; AG Heidelberg, VRR 2013, 357; Beschl. v. 28.1.2013 – 3 OWi 779/12; AG Königs-Wusterhausen, VA 2015, 105; AG Luckenwalde, StraFo 2013, 518; AG Stuttgart, VRR 2014, 163 [LS] = DAR 2014, 406; Beschl. v. 7.2.2013 – 35 OWi 314/13; AG Ulm, StRR 2013, 196).

 

Hinweis

Wichtig ist gerade bei dem Messverfahren PoliscanSpeed, dass bei einem Antrag auf Zurverfügungstellung der Messdaten (vgl. VerfGH Saarland, NZV 2019, 414) außer der eigentlichen Falldatei auch die Token-Datei sowie das dazugehörige Passwort bei der Behörde angefordert werden, da der Sachverständige ansonsten die Falldatei nicht mit seiner Software öffnen und auswerten kann. Ein insoweit ggf. erfolgender Verweis des Verteidigers auf z.B. das zuständige Eichamt wird als nicht zulässig angesehen (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.7.2022 – VGH B 30/21 Rn. 26; AG Erfurt, Verfügung v. 1.6.2016 – 64 OWi 1239/15).

 

Rz. 187

Umstritten ist nach der Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 (NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75), das sich mit dieser Frage nicht explizit befassen musste, ob aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch ein Anspruch des Betroffenen auf die Überlassung der Messdaten vom gesamten Tattag (gesamte Messserie) besteht. Während das BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 41), das OLG Zweibrücken (Beschl. v. 4.5.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, VRR 7/2021, 22) und das OLG Koblenz (Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21, StRR 04/2022, 41 = VRR 3/2022, 29) dies ablehnen, weil der erforderliche Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht bestehe, haben das OLG Jena (Beschl. v. 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, VRS 140, 33 = VRR 5/2021, 19) und das OLG Stuttgart (Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20, zfs 2021, 647, und v. 12.10.2021 – 4 Rb 25 Ss 1023/20, zfs 2021, 709) einen entsprechenden Anspruch bejaht. Der BGH hat die Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) des OLG Zweibrücken als unzulässig zurückgewiesen (Beschl. v. 30.3.2022 – 4 StR 181/21, VRR 5/2022, 22 ff. [Niehaus] = DAR 2022, 350 = zfs 2022, 347). Vor dem Hintergrund der Entscheidung des BGH (Einordnung als "Tatfrage", nicht als Rechtsfrage) ist zweifelhaft, ob die weitere Divergenzvorlage des OLG Koblenz (BGH 4 StR 84/22) die Zulässigkeitshürden überwinden kann (Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218 = zfs 2022, 289 = VRR 3/2022, 29).

 

Rz. 188

In der Sache dürften die besseren Argumente für die Auffassung des OLG Jena und des OLG Stuttgart sprechen (vgl. Niehaus, DAR 2021, 377, 379 f.). Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 12.11.2020 (NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75, Rn 50) unmissverständlich im Sinne der schon zuvor herrschenden Auffassung entschieden, dass der Betroffene ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden (!) Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen hat, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Diese für die Praxis bedeutsame Klarstellung vollziehen das BayObLG (Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20, DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 41) und das OLG Zweibrücken (Beschl. v. 4.5.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, VRR 7/2021, 22) lediglich hinsichtlich der Messdaten der den Verurteilten betreffenden Messung nach. Soweit hingegen ein Anspruch auf Überlassung der gesamten Messreihe vom Tattag abgelehnt wird, dürfte dies dem Beschluss des BVerfG erkennbar widersprechen und das dem Betroffenen grundsätzlich zuerkannte Einsichtsrecht in einem nicht unwesentlichen Teilbereich zu entwerten drohen. Wie das BVerfG (a.a.O.) ausdrücklich ausführt, kann die Verteidigung "grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen" (a.a.O., Rn 57). Hingegen obliegt es weder den Gerichten noch sind sie dazu befugt, das Einsichtnahmerecht des Betroffenen mit der Begründung einzuschränken, dass das Gericht (oder gar die PTB) meint, dass der Betroffene der Einsichtnahme in die begehrten Unterlagen und Dateien nicht bedürfe, weil sich daraus – nach Auffassung des Gerichts – nichts Relevantes ergeben werde (Niehaus, ZAP 2021, 417, 421). Das BVerfG hat lediglich mit Blick auf die erforderliche Vermeidung von "Rechtsmissbrauch" (a.a.O., Rn 56) im Anschluss an die zitierten Grundsätze ausgeführt, dass das Einsichtsrecht nicht zu einer "uferlosen Ausforschung" berechtige. Der nach dem BVerfG erforderliche sachliche und zeitliche Zusammenhang der Informationen mit dem verfahrensgegenständlichen Ordnungsw...

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