Verfahrensgang

AG Bad Saulgau (Entscheidung vom 10.08.2020; Aktenzeichen 1 OWi 25 Js 8443/20)

 

Tenor

  1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Saulgau vom 10. August 2020 mit den Feststellungen

    aufgehoben.

  2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts

    zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen auf dessen zulässigen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Stadt ... vom 9. März 2020 am 10. August 2020 wegen einer fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit außerorts um 73 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 640,- Euro sowie einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner auf die Beanstandung der Verletzung förmlichen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat am 20. November 2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Hierzu hat die Verteidigerin am 8. Dezember 2020, 23. März 2021 und am 26. Mai 2021 jeweils (ergänzende) Gegenerklärungen abgegeben, in denen sie an der Rechtsbeschwerde festhält bzw. eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG anregte. Die Generalstaatsanwaltschaft stimmte einer solche Einstellung mit Schreiben vom 5. Mai 2021 nicht zu.

II.

Das nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat bereits (vorläufig) Erfolg, soweit es mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden "Messreihe" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO). Die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen beantragte seine Verteidigerin am 11. Mai 2020 bei der Verwaltungsbehörde u. a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Dies lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 15. Mai 2020 ab. Nachdem sich die Verteidigerin am 18. Mai 2020 mit einem solchen Antrag auch an das mit der Sache bereits befasste Amtsgericht gewandt hatte, wies dieses mit Beschluss vom 15. Juni 2020 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab, da der Betroffene darauf keinen Anspruch habe. Im Hauptverhandlungstermin vom 20. Juli 2020 beantragte der in Untervollmacht anwesende Verteidiger des Betroffenen erneut u a., die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und die Hauptverhandlung auszusetzen. Weder in der Hauptverhandlung am 20. Juli 2020 noch in der am 3. oder am 10. August 2020 wurde dieser Antrag beschieden. Um auszuführen, was sich aus den beantragten Messunterlagen ergeben hätte und für den Betroffenen geltend gemacht worden wäre, versuchte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2020 nochmals, über die Verwaltungsbehörde Einsicht in die fehlenden Unterlagen zu erhalten, was nicht gelang.

2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort durch das Amtsgericht ist basierend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18, Rn. 51; Kammerbeschluss vom 4. Mai 2021 - 2 BvR 868/20, juris Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 - 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 28; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17. März 2021 - 1 OLG 331 SsBs 23/20, juris Rn. 15 mwN; Senat, Beschluss vom 3. August 2021 - 4Rb 12 Ss 1094/20 - juris).

Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss zurückgewiesen bzw. in der Hauptverhandlung nicht mehr beschieden und damit die Verteidigung unzulässig gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. mit § 338 Nr. 8 StPO beschränkt.

Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergibt sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgelda...

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