Entscheidungsstichwort (Thema)

siehe Anhang

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aus dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) folgt das Recht des Betroffenen, dass die Verwaltungsbehörde seinem Verteidiger oder einem von ihm beauftragten Sachverständigen nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um die „Parität des Wissens“ herzustellen und die dem Betroffenen ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen zu überprüfen.

2. Die Verteidigung des Betroffenen wird jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn dieser schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht im Verfahren nach § 62 OWiG erfolglos einen auf Herausgabe dieser Unterlagen gerichteten Antrag gestellt und sein erneuter, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (§ 228 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG) verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch Beschluss des Gerichts zurückgewiesen wurde, sofern nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung seines Antrags beruht oder beruhen kann.

 

Normenkette

GG Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1; OWiG § 71; StPO § 228 Abs. 1, § 338 Nr. 8

 

Tenor

  1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Q vom 17. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Q zurückverwiesen.
 

Gründe

I.

Die Stadt Q setzte mit Bußgeldbescheid vom 10.07.2018 gegen den Betroffenen wegen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage bei länger als eine Sekunde andauernder Rotlichtphase ein Bußgeld in Höhe von 200.- Euro und ein Fahrverbot von einem Monat fest, da dieser am 02.06.2018 um 16:14 Uhr in Q, B 10, A-Straße, als Führer des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen XY das Rotlicht der dortigen Lichtzeichenanlage übersehen haben soll. Hiergegen legte die Verteidigerin nach erfolgter Zustellung am 13.07.2017 mit Telefax vom 13.07.2018, welches am 18.07.2019 beim Amtsgericht einging, Einspruch ein. Bereits zuvor hatte diese nach erhaltener Akteneinsicht mit Schriftsatz vom 03.07.2018 u.a. beantragt, ihr die Falldatensätze der gesamten Messreihe, Lebensakte, Wartungsnachweise zur Lichtzeichenanlage, Leitrechnerprotokoll (Verkehrsrechnermitschrieb) zur Tatzeit, Signallageplan sowie Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit der Stadt Q mit Privatdienstleistern im Rahmen der Verkehrsüberwachung zur Verfügung zu stellen.

Diesen Antrag lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 04.07.2018 mit der Begründung ab, dass eine Übersendung der kompletten Messreihe sowie der Lebensakte nicht erfolgen könne, da beide nicht Aktenbestandteile seien. Bezüglich der Bedienungsanleitung solle sich die Verteidigerin direkt an den Hersteller Jenoptik Robot wenden, dessen Adresse mitgeteilt wurde.

Mit ausführlich begründetem Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 09.07.2018 beantragte der Betroffene gerichtliche Entscheidung dahingehend, dass die Verwaltungsbehörde anzuweisen sei, die am 03.07.2018 angeforderten Unterlagen zur Verfügung zu stellen bzw. Auskünfte zu erteilen, da die Verteidigung die Messung umfassend durch einen Sachverständigen überprüfen lassen wolle.

Am 27.07.2018 übersandte die Verwaltungsbehörde daraufhin verschiedene der im Schriftsatz vom 03.07.2018 angeforderten Unterlagen, teilte jedoch mit, dass insbesondere die Falldatensätze der gesamten Messreihe - da nicht Aktenbestandteil - nicht übermittelt würden.

Mit Schreiben vom 27.09.2018 teilte die Verteidigerin mit, dass sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach der Übersendung einiger Unterlagen durch die Verwaltungsbehörde insoweit erledigt habe, jedoch - nach Rücksprache mit dem Sachverständigen - nicht in Bezug auf das gewünschte Leitrechnerprotokoll (Verkehrsrechnermitschrieb) und die Einsicht in die gesamte Messreihe.

Mit Beschluss vom 01.10.2018 wies das Amtsgericht Q den Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit der Begründung ab, dass sich ein Recht auf Übersendung weiterer Unterlagen oder Mitteilungen nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergebe.

Daraufhin leitete die Bußgeldbehörde am 09.10.2018 die Akten an die Staatsanwaltschaft weiter, welche in der Zuleitungsverfügung vom 16.06.2017 gegenüber dem Amtsgericht mitteilte, dass gegen die dort übliche Vorgehensweise "A-Straße" keine Bedenken bestünden. Mit Verfügung vom 19.10.2018 teilte das Amtsgericht der Verteidigerin mit, es sei beabsichtigt, ein Bußgeld von 200.- Euro zu verhängen, jedoch vom Fahrverbot abzusehen und fragte, ob der Betroffene mit einer Entscheidung im Beschlusswege einverstanden sei. Dieser widersprach mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 07.11.2018 einer Entsch...

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