Absehen vom Regelfahrverbot bedarf einer Urteilsbegründung

Von der Verhängung eines straßenverkehrsrechtlich vorgesehenen Regelfahrverbots dürfen Gerichte nur in eng begrenzten Ausnahmefällen abweichen. Das Tatgericht muss die Sachangaben des Betroffenen hierzu kritisch überprüfen.

In einer umfangreich begründeten Entscheidung hat sich das OLG Hamm mit den Voraussetzungen eines Absehens vom Regelfahrverbot bei erheblichen Verkehrsordnungswidrigkeiten auseinandergesetzt.

Innerorts 102 km/h statt erlaubter 50 km/h

Gegenstand des vom OLG Hamm entschiedenen Ordnungswidrigkeitenverfahrens war eine massive Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Dezember 2021 um 52 km/h. Erstinstanzlich hat das AG den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 560 EUR verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat das Amtsgericht (AG) trotz des für diesen Fall vorgesehenen Regelfahrverbots von zwei Monaten nach dem seit dem 9.11.2021 in Kraft getretenen Bußgeldkatalog abgesehen.

Ausnahme mit drohendem Arbeitsplatzverlust begründet

Die Abweichung von der Verhängung eines Regelfahrverbots hat das AG mit einer außergewöhnlichen Härte für den Betroffenen begründet, weil dieser bei Verhängung des vorgesehenen Fahrverbots voraussichtlich seinen Arbeitsplatz verlieren würde. Wegen dieses Absehens von der Verhängung eines Regelfahrverbots hat die Staatsanwaltschaft gegen das erstinstanzliche Urteil eine auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde eingelegt.

Fahrverbote dienen der erzieherischen Einwirkung auf Verkehrssünder

Das OLG beanstandete, dass die Vorinstanz von der Verhängung des Regelfahrverbots von zwei Monaten abgesehen hat, ohne die für die Annahme einer unbilligen Härte für den Betroffenen erforderlichen Feststellungen im Urteil nachprüfbar darzulegen. Angesichts des hohen Unrechtsgehalts und der Gefährlichkeit der vom Betroffenen begangenen Ordnungswidrigkeit, sei bei erheblichen Straßenverkehrsverstößen grundsätzlich von der Erforderlichkeit zur Einwirkung auf den Betroffenen durch ein Fahrverbot auszugehen (OLG Koblenz, Beschluss v. 23.4.2014, 2 SsBs 14/14).

Absehen vom Fahrverbot in engen Grenzen möglich

Die Verhängung eines Fahrverbots unter Anwendung der Regelbeispielstechnik des Bußgeldkatalogs nach Maßgabe des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG erscheine nur dann als unangemessen, wenn der konkrete Sachverhalt zugunsten des Betroffenen vom Regelverlauf so erheblich abweicht, dass die Verhängung eines Fahrverbots unter Würdigung der Gesamtumstände als unbillige Härte erscheine. Dies gelte nach der Rechtsprechung u.a. dann, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner wirtschaftlichen Existenz droht und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (OLG Hamm, Beschluss v. 12.1.2017, III – 2 RBs 224/16).

Ausnahmen müssen dezidiert begründet werden

Beabsichtige das AG aufgrund solcher Erwägungen im Einzelfall von der Verhängung eines Regelfahrverbots abzusehen, so erfordere dies in den Urteilsgründen eine eingehende, tatsachengestützte Begründung, die es der Beschwerdeinstanz ermögliche, die Voraussetzungen für die Annahme einer unbilligen Härte rechtlich nachzuprüfen. Bei der Beurteilung eines vom Betroffenen behaupteten konkret drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes, sei der Tatrichter verpflichtet, die Angaben auf ihre Richtigkeit hin abzuklopfen und im Urteil darzulegen, aus welchen Gründen er die Angaben für glaubhaft erachtet (OLG Bamberg, Beschluss v. 22.7.2016, 3 Ss OWi 804/16).

Allgemeiner Hinweis auf berufliche Nachteile reicht nicht

Im konkreten Fall vermisste der Senat eine solche, ins Einzelne gehende Urteilsbegründung. Der Amtsrichter habe die Angaben des Betroffenen zum drohenden Verlust des Arbeitsplatzes unkritisch übernommen und sich auch mit einer zur Untermauerung vom Betroffenen vorgelegten schriftlichen Bestätigung des Arbeitgebers nicht inhaltlich auseinandergesetzt. Das im konkreten Fall schwere verkehrswidrige Fehlverhalten des Betroffenen rechtfertige es auch aus Gründen der Gleichbehandlung gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern nicht, dass sich ein Verkehrsteilnehmer unter einem allgemeinen Hinweis auf vermeintliche berufliche Nachteile einem Fahrverbot entziehen könne.

Betroffene müssen berufliche Folgen selbst minimieren

Im konkreten Fall sei der Betroffene als Verkaufsberater in einem großen Autohaus tätig. Auch wenn es zu seinen Aufgaben gehöre, Überführungsfahrten und Probefahrten mit Kunden durchzuführen, habe weder der Betroffene noch dessen Arbeitgeber dargelegt, weshalb diese Tätigkeiten nicht vorübergehend durch andere Arbeitnehmer im gleichen Betrieb vorgenommen werden könnten und aus welchen Gründen der Betroffene während der Zeit des Fahrverbots keinen längeren, zusammenhängenden Urlaub nehmen und damit die Folgen des Fahrverbots für seine berufliche Tätigkeit deutlich minimieren könne.

Umfangreiche Aufklärungspflicht des Tatrichters

Diesem dem Tatgericht obliegenden Aufklärungs- und Begründungsaufwand wurde das erstinstanzliche Urteil nach Auffassung des Senats nicht gerecht. Gegebenenfalls hätte das AG den Arbeitgeber, Betriebsinhaber oder Geschäftsführer vor Gericht hören müssen und dem pauschalen Hinweis auf einen drohenden Verlust des Arbeitsplatzes nicht einfach Glauben schenken dürfen.

Auch eine Verkürzung der Fahrverbotsdauer kommt in Betracht

Schließlich fehlten in dem erstinstanzlichen Urteil nach der Bewertung des Senats auch Überlegungen zu der Frage, ob der Arbeitgeber im konkreten Fall überhaupt die rechtliche Möglichkeit zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses gehabt hätte. Arbeitsrechtlich wäre dem Arbeitgeber eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses bei Verhängung eines Fahrverbots nur dann möglich, wenn der Arbeitnehmer hierdurch dauerhaft oder zumindest für einen erheblichen Zeitraum einen wesentlichen Teil der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht hätte erbringen können. Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen, hielt der Senat für fraglich. Zur Abmilderung möglicher arbeitsrechtlicher Folgen hätte das AG nach Auffassung des Senats auch die Möglichkeit einer Verkürzung des zweimonatigen Fahrverbots auf einen Monat in Betracht ziehen müssen.

Begründungsmängel führen zur Aufhebung des Ersturteils

Wegen dieser Begründungsmängel des erstinstanzlichen Urteils gab das OLG der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft statt und verwies das Verfahren zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das AG zurück.

(OLG Hamm, Beschluss v. 3.3.2022, 5 RBs 48/22)

Hintergrund:

Seit einigen Jahren stellt das Straßenverkehrsrecht Betroffenen eines Fahrverbots diverse Optionen zur Eindämmung der mit einem Fahrverbot verbundenen negativen Folgen zur Verfügung.

Variationen beim Geltungszeitraum möglich

Gemäß § 25 Abs. 2a StVG besteht die Möglichkeit, dass ein Fahrverbot erst zu dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem der Führerschein in amtliche Verwahrung gelangt. Voraussetzung ist allerdings, dass in den letzten zwei Jahren vor der Ordnungswidrigkeit ein Fahrverbot gegen die betroffene Person nicht verhängt worden ist. Von einem Fahrverbot Betroffene haben dann die Möglichkeit, den Zeitraum der Geltung des Fahrverbots selbst zu bestimmen, den Zeitraum der Gültigkeit des Fahrverbots auf ihre beruflichen Bedürfnisse abzustimmen und sich gegebenenfalls während der Zeit des Fahrverbots Urlaub zu nehmen. Diese Option ist jedoch auf den Zeitraum von längstens vier Monaten nach der Rechtskraft der Fahrverbotsentscheidung begrenzt.

Absehen vom Fahrverbot führt zur Erhöhung des Bußgeldes

Bedeutet die Anordnung des Fahrverbots trotz der bestehenden rechtlichen Optionen eine unbillige Härte, so lässt die Rechtsprechung grundsätzlich Ausnahmen zu, so bei einem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes (OLG Bamberg, Beschluss v. 28.12.2015, 3 Ss OWi 1450/15). Wird von der Anordnung eines Fahrverbots ausnahmsweise abgesehen, so soll gemäß § 4 Abs. 1, 4 BKatV das für den betreffenden Tatbestand als Regelsatz vorgesehene Bußgeld allerdings angemessen erhöht werden.

Schlagworte zum Thema:  Fahrerlaubnis, Verkehrsrecht, Bußgeld