Lückenrechtsprechung ist nicht auf parkende Fahrzeuge anwendbar

In einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung hat der BGH sich ausführlich mit den Sorgfaltspflichten eines Fahrzeugführers beim Vorbeifahren an einem am rechten Fahrbahnrand geparkten Lkw auseinandergesetzt und eine gesteigerte Sorgfaltspflicht – anders als bei der sogenannten Lückenrechtsprechung – verneint.
Fahrzeugkollision nach Vorbeifahren an parkenden Lkw
In dem vom BGH entschiedenen Fall fuhr ein Pkw-Fahrer an einem unmittelbar vor einer Einfahrt zu einem Unternehmensgelände am rechten Fahrbahnrand stehenden Lkw vorbei. Rechts neben dem Lkw befanden sich in Längsrichtung markierte Parkplätze. Auf einem dieser Parkplätze befand sich ein Pkw. Der Halter dieses parkenden Pkw beabsichtigte, rechts an dem Lkw vorbeizufahren, um unter Nutzung der Unternehmensausfahrt vor dem Lkw die Fahrbahn zu überqueren. Er wollte sein Fahrzeug auf die gegenüberliegende Fahrbahn umparken. Beim Herausfahren kollidierte er mit dem links an dem Lkw vorbeifahrenden Pkw.
Umparker reklamiert Mitverschulden des Unfallgegners
Der Halter des Umparkerfahrzeugs machte ein Mitverschulden des links an dem Lkw vorbeifahrenden Fahrzeugs an dem Unfallereignis geltend und bekam beim erstinstanzlich mit der Schadensersatzklage befassten Landgericht teilweise recht. Das LG erkannte auf eine Mitverschuldensquote des links an dem Lkw vorbeifahrenden Pkw in Höhe von 25 % und begründete dies mit der sogenannten Lückenrechtsprechung des BGH.
Was genau besagt die Lückenrechtsprechung?
Die Lückenrechtsprechung des BGH besagt, dass denjenigen, der eine stehende Fahrzeugkolonne überholt, eine gesteigerte Sorgfaltspflicht trifft, sobald er eine Fahrzeuglücke in der Kolonne entdeckt. Aus dem Rücksichtnahmegebot leitet der BGH für Vorbeifahrende an einer Fahrzeugkolonne eine besondere Aufmerksamkeitspflicht ab. Bei einer Lücke in einer stehenden Fahrzeugkolonne müsse immer damit gerechnet werden, dass ein nicht vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug die entstandene Lücke zur Durchfahrt oder Querung nutzt, da auf andere Weise ein Queren der Fahrbahn für nicht vorfahrtsberechtigte Fahrzeuge oft gar nicht möglich sei (BGH, Urteil v. 8.3.2022, VI ZR 1308/20).
Regelmäßige Mitverschuldensquote von 25 %
Der Vorfahrtsberechtigte dürfte sich deshalb einer erkennbaren Kolonnenlücke nur mit gesteigerter Aufmerksamkeit nähern und müsse seine Geschwindigkeit so einstellen, dass ihm notfalls ein sofortiges Anhalten möglich sei. Dies gilt nach der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte auch bei der Entstehung einer Lücke vor gut sichtbaren, größeren Grundstückseinfahrten wie der Einfahrt zu einem Supermarkt oder zu einer Tankstelle (OLG Köln, Beschluss v. 19.8.2014,19 U 30/14). Kommt es hierbei zu einem Unfall, so trifft den Überholenden nach dieser Rechtsprechung regelmäßig ein Mitverschulden in Höhe einer Haftungsquote von 25 bis 30 %.
Lückenrechtsprechung bei parkenden Fahrzeugen nicht anwendbar
Diese Lückenrechtsprechung ist sowohl nach dem zweitinstanzlichen Urteil des OLG als auch nach dem aktuellen Urteil des BGH auf das Vorbeifahren an einem am rechten Fahrbahnrand haltenden Lkw entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung des LG nicht anwendbar. Im konkreten Fall gelte gem. §§ 9 Abs. 5, 10 Satz 1 StVO, dass sich der Führer eines Fahrzeugs beim Wenden bzw. bei der Ausfahrt aus einem Grundstück besonders sorgfältig zu verhalten habe. Diese gesteigerte Sorgfalt beinhalte, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer durch das beabsichtigte Fahrmanöver ausgeschlossen sein müsse.
Für Vorfahrtsberechtigten gilt Vertrauensgrundsatz
Im konkreten Fall habe der Fahrer des an dem Lkw vorbeifahrenden Pkw keinerlei Anzeichen erkennen können, dass ein rechts neben dem Lkw befindlicher Pkw vor dem Lkw auf die Fahrbahn einscheren könnte. Vielmehr gelte im konkreten Fall in vollem Umfange der Grundsatz, dass der Teilnehmer des fließenden Verkehrs auf die Beachtung seines Vorrangs vertrauen darf, solange er keine Anzeichen dafür erkennen kann, dass ein anderes Fahrzeug sein Vorfahrtsrecht missachten könnte.
Keine Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten
Nach der Entscheidung des BGH war ein Sorgfaltspflichtverstoß des Fahrers des an dem Lkw vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht zu erkennen. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Rahmen der gem. § 17 Abs. 1 und 3 StVG vorzunehmenden Abwägung die Betriebsgefahr des vorfahrtsberechtigten Pkw hat vollkommen zurücktreten lassen und ein alleiniges Verschulden und damit eine alleinige Haftung des Fahrers des nicht vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs angenommen hat.
Revision zurückgewiesen
Demgemäß hat der BGH die Revision des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des OLG Nürnberg zurückgewiesen.
(BGH, Urteil v. 4.6.2024, VI ZR 374/23)
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