Leitsatz (amtlich)

Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 - Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)?

 

Tenor

  1. Das Verfahren wird auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 3 S. 1 OWiG).
  2. Die Sache wird gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

    Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 - Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)?

 

Gründe

I.

1.

Die Zentrale Bußgeldstelle ... hat gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid 09.1508092.8 vom 15. Mai 2020 (Bl. 34 f. d.A.; zugestellt am 23.05.2020, Bl. 36 f. d.A.) wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h ein Bußgeld von 355,- Euro sowie ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG verbundenes Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Den Bußgeldregelsatz der Nr. 11.3.7 BKatV hat die Bußgeldbehörde wegen einer Voreintragung im Fahreignungsregister erhöht.

Der Betroffene hat hiergegen durch Telefax-Schreiben seines Verteidigers am 5. Juni 2020 Einspruch einlegen lassen (Bl. 38 d.A.). Nachdem der Verteidiger Akteneinsicht hatte (Bl. 41 d.A.), hat der Betroffene durch Schreiben des Verteidigers vom 8. Juli 2020 (Bl. 43 ff. d.A.) beantragt, das Verfahren einzustellen, da nach seinem Dafürhalten (s)eine Identifizierung als Fahrzeugführer nicht zu erreichen sein werde. Darüber hinaus begehre er "ausdrücklich komplette Akteneinsicht (...)", "insbesondere in die gesamte Messreihe". Er wünsche Einsicht nicht nur "in die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten" sondern auch in folgende Unterlagen bzw. Dateien: Statistikdatei und Caselist, vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen des Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme, Konformitätsbescheinigung, die "Aufbau- bzw. Einbauanweisung der Firma Vitronic für das Messgerät PoliScan FM1 bei Verwendung in einem Trailer" - tatsächlich erfolgte die Messung mit dem ESO-Einseitensensor ES 3.0, Softwareversion 1.007.2 - sowie die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Nur durch Einsicht in diese Unterlagen und Dateien könne ein eventueller Messfehler überhaupt erst erkannt werden. Insbesondere könne sich aus einer Analyse der Messreihe ergeben, dass (auch) andere Messungen fehlerhaft gewesen seien oder technisch nicht nachvollzogen werden könnten, woraus Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung gezogen werden könnten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Schriftsatz Bezug genommen (Bl. 43 ff. d.A.).

Die Zentrale Bußgeldstelle ließ daraufhin eine Compact-Disk mit der Gebrauchsanweisung, dem Schulungsnachweis, der Falldatei inkl. Passwort und Token, einem entschlüsselten Bild, dem Messbild mit Symbolen sowie der Statistikdatei zusammenstellen (Bl. 47 d.A.) und dem Verteidiger mit Schreiben vom 10. August 2020 zukommen. Den Antrag auf Vorlage der gesamten Messreihe lehnte sie unter Hinweis auf datenschutzrechtliche Gründe sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen anderen Fahrer ab. Wegen der Einzelheiten wird auf das vorgenannte Schreiben (Bl. 51 f. d.A.) Bezug genommen.

Hierauf ließ der Betroffene durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 19. August 2020 auf gerichtliche Entscheidung dieser Frage antragen (Bl. 53 d.A.). Die Zentrale Bußgeldbehörde teilte mit Schreiben vom 20. August 2020 mit, dass sie dem Antrag nicht abhelfe (Bl. 55 f. d.A.).

Durch Beschluss vom 7. Oktober 2020 wies das Amtsgericht Alzey den Antrag des Betroffenen "auf Übersendung der gesamten Messreihe des Tattages" zurück (Bl. 59 f. d.A.). Zur Begründung wird ausgeführt, hierbei handele es sich nicht um ein Beweismittel im Verfahren. Ein Betroffener habe tatsa...

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