Rz. 1702

Das BAG unterzieht Widerrufsvorbehalte einer zweistufigen Prüfung. Auf der ersten Stufe wird die wirksame Vereinbarung des Widerrufs kontrolliert (Vereinbarungskontrolle). Wirksam vereinbart wird ein Widerrufsvorbehalt nur dann, wenn er bestimmten inhaltlichen und formalen Anforderungen genügt. Neben diese Vereinbarungskontrolle tritt die Ausübungskontrolle als zweite Stufe. Dort wird überprüft, ob der Arbeitgeber von seinem – wirksam vereinbarten – Widerrufsrecht im Einzelfall in zulässiger Art und Weise Gebrauch gemacht hat.

aa) Inhaltliche Anforderungen

 

Rz. 1703

Die Wirksamkeitsgrenzen für vorformulierte Widerrufsvorbehalte folgen aus den §§ 307, 308 Nr. 4 BGB.[3891] Danach muss die Widerruflichkeit dem Arbeitnehmer zumutbar sein. Das ist der Fall, wenn der Widerruf nicht grundlos erfolgen soll, sondern wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als Instrument der Anpassung notwendig ist.[3892] Die Notwendigkeit beurteilt sich wiederum auf Grundlage einer Interessenabwägung, die vor allem die Art und Höhe der zu widerrufenden Leistung, die Höhe des verbleibenden Verdienstes und die Stellung des Arbeitnehmers im Unternehmen berücksichtigt.[3893] Die Interessenabwägung muss ergeben, dass die Widerrufsgründe den Widerruf typischerweise rechtfertigen, d.h. losgelöst vom konkreten Einzelfall.[3894] Es gelten folgende Leitlinien:

[3891] BAG 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931; BAG 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465, 467. Bzgl. der genauen Einordnung vgl. Lakies, Vertragsgestaltung und AGB im Arbeitsrecht, Kap. 5 Rn 18 ff., 34 sowie AGB-ArbR/Roloff, § 308 Rn 29 f.
[3893] BAG 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931, 932; BAG 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, NZA 2007, 87, 89; BAG 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465, 467; Lakies, Vertragsgestaltung und AGB im Arbeitsrecht, Kap. 5 Rn 35; ders., Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, Rn 518; Suckow u.a./Suckow, Rn 921; Däubler u.a./Bonin, § 308 Rn 34; Henssler/Moll, S. 22; Schimmelpfennig, NZA 2005, 603; Hümmerich, NJW 2005, 1759.
[3894] BAG 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931, 932; AGB-ArbR/Roloff, § 308 Rn 96; Kaul, ArbRAktuell 505, 506.

(1) Unzulässig: Eingriffe in den Kernbereich

 

Rz. 1704

Ein Arbeitgeber kann Leistungen, die den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses betreffen, nicht mit einem Widerrufsvorbehalt versehen.[3895] Ein solcher würde gegen die Wertung des § 307 Abs. 2 BGB verstoßen. Das BAG konkretisiert den Kernbereich anhand zweier Grenzen – der tariflichen Vergütung einerseits und einem bestimmten Höchstsatz an der Gesamtvergütung andererseits. Der Kernbereich soll immer dann betroffen und ein Widerrufsvorbehalt somit unzulässig sein, wenn dem Arbeitnehmer nach Ausübung des Widerrufs nicht mehr die tarifliche Vergütung verbleibt. Diese Einschränkung ist allerdings abzulehnen. Tarifverträge sind kein tauglicher Maßstab für die Inhaltskontrolle (siehe dazu Rdn 175 ff.). Im Übrigen darf bei Tarifgebundenheit der Tariflohn ohnehin nicht unterschritten werden. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber ohne gesetzliche Anordnung an den Tariflohn als Untergrenze zu binden, wäre höchst bedenklich.[3896] Vorzugswürdig ist es, stattdessen die Rechtsprechung zur sittenwidrig niedrigen Vergütung als absolute Untergrenze für den Widerrufsvorbehalt heranzuziehen (siehe dazu Rdn 1720).

 

Rz. 1705

Ein unzulässiger Eingriff in den Kernbereich soll auch dann vorliegen, wenn ein bestimmter Prozentsatz des Gesamtverdienstes widerruflich gestellt wird. Die genaue Höhe bestimmt das BAG nach der Art der zu widerrufenden Leistung. Für im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistungen muss der widerrufliche Teil unter 25 % des Gesamtverdienstes liegen.[3897] Bei Zahlungen, die nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen (z.B. Aufwendungsersatz), soll sich der widerrufliche Teil auf bis zu 30 % der Gesamtvergütung erhöhen dürfen.[3898] Soll ein höherer Anteil der Vergütung flexibilisiert werden, ist ein Freiwilligkeitsvorbehalt (siehe dazu Rdn 896 ff.) oder eine Teilbefristung (siehe dazu Rdn 618 ff.) in Betracht zu ziehen.

[3895] BAG 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931, 933; BAG 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, NZA 2007, 87, 89; BAG 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465, 467; auch Lakies, Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, Rn 516; Däubler u.a./Bonin, § 308 Rn 35. Zur Frage, was zum Kernbereich des Arbeitsverhältnisses gehört, vgl. auch LAG München 26.6.2014 – 3 Sa 30/14, BeckRS 2015, 72845.
[3896] So aber zuletzt BAG 24.1.2017 – 1 AZR 772/14, NZA 2017, 931, 933. Zu Recht kritisch daher Bayreuther, ZIP 2007, 2009 f.; Franzen, in GS Zachert (2010), S. 386, 394; Stoffels, NZA 2017, 1217, 1219f.; AGB-ArbR/Roloff, § 308 Rn 52. Eine andere Interpretationsmöglichkeit des BAG findet sich bei Preis/Lindemann, AuR 2005, 227, 230.

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