Rz. 4

Ausschlaggebend für die Prüfung ist damit nicht der Betriebsbegriff, sondern der vom EuGH angewandte Begriff der wirtschaftlichen Einheit.[5] Ob diese wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt, ist nach sämtlichen, den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung zu prüfen.[6] Folgende Kriterien sind von Bedeutung (7-Punkte-Katalog):

Die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs,
der Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva wie Gebäude und bewegliche Güter,
der Wert der immateriellen Aktiva zum Zeitpunkt des Übergangs,
die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft auf den neuen Inhaber,
der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft,
der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und der nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit sowie
die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit.
 

Rz. 5

Jedem dieser Kriterien kann im Einzelfall unterschiedliches Gewicht zukommen. Nicht zuletzt hängt dies von der betroffenen Branche ab. Handelt es sich z.B. um einen Betrieb aus dem Produktionsgewerbe, stehen die materiellen Aktiva im Vordergrund;[7] bei einem Dienstleistungsbetrieb kommt es hingegen mehr auf die persönlichen Betriebsmittel, insbesondere auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer, an. Dies soll anhand der folgenden zwei Beispiele verdeutlicht werden:

 

Rz. 6

 

Beispiel 1

Die Fa. A betreibt am Standort A eine Schuhfabrik. Die Produktionsstätte zeichnet sich durch eine hohe Anzahl von Maschinen aus, die zur Herstellung der Schuhe benötigt werden. Der Konkurrent, die Fa. B am Standort B, übernimmt nun die Fa. A insgesamt mit sämtlichen Gebäuden, Maschinen und beweglichen Gütern. Auch der gesamte Kundenstamm wird übernommen.

Hierbei handelt es sich um einen klassischen Fall des Betriebsübergangs. Der Wert der Fa. wird durch die materiellen Aktiva bestimmt. Diese werden von einem Betriebserwerber übernommen. Es handelt sich um einen Betriebsübergang mit der Folge, dass der Betriebserwerber B verpflichtet ist, sämtliche Arbeitnehmer der Fa. A zu übernehmen.

 

Rz. 7

 

Beispiel 2

Eine Reinigungskraft ist zur Reinigung ausschließlich in einem bestimmten Unternehmen eingesetzt. Der Reinigungsauftrag wird gekündigt. Nunmehr vergibt das Unternehmen einen neuen Reinigungsauftrag und die neue Fa. stellt über 85 % der bislang tätigen Reinigungskräfte einschließlich der Vorarbeiterin ein. Unsere Reinigungskraft wurde bei dieser Neueinstellung jedoch nicht berücksichtigt, bekam aber auch keine Kündigung ihres bisherigen Arbeitgebers.

Hier wurde eine organisierte Gesamtheit als wirtschaftliche Einheit im Sinne der Rspr. des EuGH übernommen. Diese Gesamtheit von Arbeitnehmern wird im Wesentlichen von der menschlichen Arbeitskraft, dem Reinigungspersonal, dargestellt. Wesentliche Betriebsmittel sind nicht vorhanden. Das Arbeitsverhältnis der Reinigungskraft ist daher nach § 613a BGB kraft Gesetz auf die neue Fa. übergegangen, die zudem verpflichtet ist, auch die fehlenden 15 % weiter zu beschäftigen.

 

Rz. 8

 

Praxishinweis

Die nationalen Gerichte bis hin zum BAG haben sich an den Vorgaben des EuGH zu orientieren. Für die Ausfüllung des umstrittenen Betriebsbegriffs ist dennoch vorrangig auf die umfangreiche Rspr. der nationalen Arbeitsgerichte zurückzugreifen. Diese Rspr. kann an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden, sodass für weitere Einzelheiten auf die weiterführende Literatur verwiesen werden muss.[8] Bei jeder Prüfung hat man sich zu gegenwärtigen, dass ein Betriebsübergang die Wahrung der Identität des Betriebs beim Erwerber erfordert und nicht lediglich aus dem Untergang der früheren Identität beim Betriebsveräußerer folgt. Es ist also grds. stets eine Vorher-Nachher-Prüfung vorzunehmen. Wer sich als Übernehmer sächlicher, immaterieller oder personeller Mittel "in ein gemachtes Bett legt", unterliegt den weitgehenden Rechtsfolgen des § 613a BGB. Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH sogar dann, wenn der übertragene Unternehmens- oder Betriebsteil seine organisatorische Selbstständigkeit nicht bewahrt, sondern verliert.[9]

[5] Arens/Düwell/Wichert, § 11 Rn 18 ff.
[6] Siehe z.B. BAG v. 22.7.2004, NZA 2004, 1384; BAG v. 15.12.2022, NZA 2023, 352.
[7] Aber auch beim betriebsmittelgeprägten Betrieben schließt die Nichtübernahme der Betriebsmittel nicht pauschal einen identitätswahrenden Übergang aus, vgl. EuGH v. 27.2.2020, NZA 2020, 443; zur Bedeutung der materiellen Betriebsmittel für den Luftverkehrssektor BAG v. 27.2.2020, NZA 2020, 1303.
[8] Guter Überblick bei ErfK/Preis, § 613a BGB Rn 10 ff.; Müller-Bonanni, NZA-Beil. 2009, Nr. 1 S. 13 ff.; siehe auch den älteren umfangreichen zweiteiligen Aufsatz von Hunold, NZA-RR 2003, 505, 561.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge