Kolumne Talent Management: Plädoyer für Anstand

Wertschätzung steht in vielen Führungsleitfäden. Doch sie ist auch schnell vergessen, wenn allzu naheliegende Studienergebnisse in die Praxis übertragen werden. Kolumnist Martin Claßen nennt ein Beispiel dafür und ruft zum Nicht-Beachten der Studie auf.

Diesmal muss ich auf eine Studie aufmerksam machen, die Sie für Ihr Unternehmen am besten sofort – also jetzt – auf den Index setzen. Denn sie zeigt bitterböse Ergebnisse. Unter dem Titel "Guilty and helpful: an emotion-based reparatory model of voluntary work behavior" sind in der letztjährigen Novemberausgabe des "Journal of Applied Psychology" höchst ruppige Aussagen zu finden: Führungskräfte sollen nach dem Fehlverhalten eines ertappten Talents dessen schlechtes Gewissen durch fiese Kommentare noch verstärken. Denn mit starken Schuldgefühlen wird sich der reumütige Mitarbeiter besonders eifrig für die Firma ins Zeug legen.

Diese Psycho-Logik eines defizitorientierten Feedbacks klingt einleuchtend: Erwischtwerden beim falschen Verhalten erzeugt ungute Gefühle, besonders wenn der Chef zum lauten Ankläger wird. Das Schuldbewusstsein kann nur dann beseitigt werden, wenn aus dem Miesling ein Musterschüler wird.

Falscher Praxistransfer der Studienergebnisse

Solche Erkenntnisse werden nun bestimmt als gute Motivatoren in der Medien- und Trainerlandschaft rauf- und runtergezerrt. Da Führungskräfte auf der ständigen Suche nach wirkungsvollen Antreibern für stärkeres Engagement ihrer Mitarbeiter sind, werden nicht wenige zugreifen.

Viele Talente lassen sich zudem leicht packen. Besonders wenn im Unternehmen eine Nullfehlerkultur erzeugt wird, bei der jeder mindestens einmal täglich falsches Verhalten aufführt oder zumindest schlechte Ergebnisse auslöst. Nichts gegen Nullfehlerkultur, aber sie ist nur in tatsächlich kritischen Bereichen anzustreben, etwa in der Pilotenkanzel, am Operationstisch und im Kernkraftwerk. Passiert nicht sogar in der Evolution die Entwicklung und damit der Fortschritt erst durch Fehler, die dort genetische Mutation genannt wird?

Anderes Menschenbild tut Not

Nun wird im Talent Management – als normativer Grundsatz – eine wertschätzende Haltung propagiert, im vielstimmigen Chor mit bekannten Vorsängern. Dahinter steckt ein Menschenbild, das sich mit der Psycho-Logik der Forscher von der National University of Singapore heftig beißt. Ich finde – da lasse ich mich nicht abbringen –, dass viel eher bei solchen Führungskräften ein schlechtes Gewissen erzeugt werden sollte, die das schlechte Gewissen ihrer Talente als Motivator ausnutzen. Denn Talent Management hat etwas mit Anstand zu tun. Was Menschen natürlich nicht immer leicht fällt.

Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.