Arbeitswelten 2050: Arbeiten im digitalen Bonussystem

Der "Zukunftskreis" des Bundesforschungsministeriums identifiziert Zukunftstrends und entwirft auf dieser Basis verschiedene Zukunftsszenarien. Was wäre, wenn wir in Deutschland ein Bonuspunktesystem, wie es beispielsweise in China existiert, als zentrales politisches Steuerungsinstrument hätten? Wie würde sich dies auf die Arbeitswelten auswirken?

Was wäre, wenn Deutschland, in Anlehnung an bestehende Social-Scoring-Praktiken in Europa und vor allem an Chinas Sozialkreditsystem, in naher Zukunft ein Bonuspunktesystem einführt? Ein staatlich betriebenes digitales Punktesystem, bei dem durch bestimmte Verhaltensweisen Punkte gesammelt werden können (zum Beispiel Ehrenamt, Verkehrsverhalten, CO2-Abdruck), mit dem Vorteil, soziale Anerkennung und Vorteile im Alltag zu erhalten, zum Beispiel verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge.

Wie würde in einem solchen Szenario die Arbeitswelt aussehen (zu einem PDF, das das Szenario vorstellt, gelangen Sie hier)? Wie würde sich die Einkommenspolitik entwickeln? Wie würde gearbeitet werden? Welche neuen Wirtschaftszweige würden entstehen oder gar obsolet? Welche Rolle würde künstliche Intelligenz im Alltag spielen? Welche Auswirkungen wären auf die Resilienz und Psyche in der Arbeits- und Lebenswelt absehbar? Welche weiterführenden Konflikte und Herausforderungen könnten sich noch ergeben? Diesen Fragen widmet sich dieser Beitrag mit ein paar Impulsen.

Zukunftsszenario Bonussystem: Entwicklung der Einkommenspolitik

Die Welt des Bonuspunktesystems ist von der "zweiten Welle der Digitalisierung" geprägt. Das Wirtschaftswachstum wird durch datenbasierte Wertschöpfung gestützt, auf Grundlage immer effizienterer Anwendungen künstlicher Intelligenz (KI). Durch die Automatisierung von Prozessen wurden viele, vor allem gering qualifizierte Arbeitskräfte freigesetzt. Gleichzeitig ist der Bedarf nach neuen Qualifikationen, insbesondere in KI-relevanten Bereichen, gestiegen. Dies hat Auswirkungen auf die Wohlfahrts- und Einkommenspolitik. Denkbar sind zwei Szenarien:

Szenario 1: Bestehendes Sozialversicherungssystem wird noch konservativer

In diesem Szenario bleibt das zum "konservativen Wohlfahrtsregime" (Esping-Anderson, 1990) zählende Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik bestehen, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anteilig vom Lohn in die Rentenkasse einzahlen und alle Bürgerinnen und Bürger eine gewisse soziale Sicherung genießen. Im Vergleich zum "liberalen Wohlfahrtstypus", wie er zum Beispiel in den USA vorherrscht, zeichnet sich der konservative Typ durch eine höhere Einkommensgleichheit, zugleich auch (aufgrund von Kündigungsschutz etc.) durch eine geringere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt aus. Das System in der Bundesrepublik hat einen entsprechend "konservierenden" Effekt: Hat man einen gewissen Status in der Sozialhierarchie erreicht, ist es relativ schwieriger (selbstverständlich aber natürlich nicht unmöglich), daraus auszubrechen (Fathi, 2013).

Aus optimistischer Sicht könnte die Einführung eines Bonuspunktesystems die Konstellation innerhalb des Wohlfahrtssystems verändern und mit einer stärker leistungsbezogenen Dynamik anreichern. Das Erzielen hoher Punktewerte könnte an einen vereinfachten Zugang zu begehrten Bildungsangeboten und/oder Jobpositionen gekoppelt sein, wodurch sich neue Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs ergeben. Aus pessimistischer Sicht könnte das Bonuspunktesystem eher als Vehikel dienen, bestehende Klassenunterschiede zu zementieren. Denkbar wäre dies zum Beispiel, wenn bestimmte Tätigkeiten, die "Punkte bringen", bereits bestimmte Vorbedingungen (zum Beispiel einen bestimmten Bildungsgrad oder Noten) voraussetzen. Der konservative Typ würde dadurch noch konservativer.

Szenario 2: Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)

Ein Wirtschaftssystem, in dem die steigende Wertschöpfung überwiegend KI-basiert ist, begünstigt das Etablieren eines Systems auf Basis des BGE. So könnten diejenigen, deren Jobs vollständig von Maschinen übernommen wurden, vor der befürchteten Nutzlosigkeit geschützt werden (Brynjolfsson/McAffee 2014). In diesem Szenario wird das von den Maschinen erwirtschaftete Geld umverteilt und so ein entsprechendes Grundeinkommen für alle ermöglicht. Dies führt wiederum dazu, dass – so zumindest in der Theorie der BGE-Befürworter – Menschen freiwillig mehr gesellschaftlich nützliche Arbeiten verrichten, um der "Wohlstandsarbeitslosigkeit" zu entfliehen. Ein System auf Basis des BGE setzt ein vereinfachtes Steuersystem voraus, das heißt, es würden – abgesehen von besonderer Bedürftigkeit – alle allgemeinen steuer- und abgabenfinanzierten Sozialleistungen entfallen, wie zum Beispiel Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Kindergeld. Zugleich sollte immer noch die Möglichkeit bestehen, zusätzlich zum BGE mehr Einkommen durch Erwerbsarbeit zu verdienen.

Das Punktesystem würde hierbei eine wichtige Orientierungs- und Steuerungsfunktion übernehmen. Die Regulierung beinhaltet, dass Bürger und gegebenenfalls auch Firmen, abhängig vom erzielten Punktewert besteuert werden oder zumindest bei einem hohen Punktewert von Steuervergünstigungen profitieren können. Die Besteuerung sieht mit steigendem Erwerbseinkommen ein Abschmelzen des Grundeinkommens vor. Es ist denkbar, dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die negative Einkommensteuer umgesetzt hat. Im BGE sollen Punkte nicht nur Anreize schaffen, soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit umzusetzen, sondern auch (gegebenenfalls auf Zeit) unbeliebte, systemrelevante Arbeiten zu übernehmen, die selbst nicht mal durch Roboter substituiert werden können (zum Beispiel Pflegeberufe). Zusätzliche Punkte könnten eine bessere Bezahlung, gegebenenfalls aber auch begehrte Ausbildungen für Umschulungen in lukrativen, mit KI befassten Sektoren, in Aussicht stellen.

Arbeiten 5.0: Reale und virtuelle Welt verschmelzen

In der Welt des Bonuspunktesystems sind Arbeits- und Lebenswelt vollumfänglich von intelligenten Assistenzsystemen, lernenden Robotern und benutzeroptimierten Informationen durchdrungen. In nahezu allen Bereichen der Lebens- und Arbeitswelt interagieren Mensch und Maschine, etwa durch Assistenzsysteme mit Augmented-Reality-Elementen.

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Die reale und physische Welt verschmelzen zu cyber-physischen Systemen miteinander, auch weil in nahezu allen Gegenständen Elektronik, Aktorik und Sensorik installiert ist (mehr zu den Potenzialen von daten- und KI-basierten Wertschöpfungsnetzwerken lesen Sie hier). Physische Objekte und Prozesse werden als "digitaler Zwilling" in der virtuellen Realität abgebildet. Im Bonuspunktesystem spielt dabei Super-Scoring eine entscheidende Rolle, indem Punktesysteme aus unterschiedlichen Lebensbereichen wie Gesundheitsverhalten, Lernleistungen oder Bonität von KIs zusammengeführt, weiterverarbeitet und bewertet werden. Soziale und psychische Phänomene werden quantifiziert (Mau, 2020).

Künstliche Intelligenz übernimmt immer mehr Entscheidungen

In der Arbeitswelt, insbesondere in nahezu allen Wissensberufen, übernehmen KIs immer komplexere Auswertungs- und Entscheidungsfunktionen, auch auf Grundlage des Punktesystems. Zwar ist für KIs in vielen Bereichen eine Assistenzfunktion vorgesehen, wie zum Beispiel bei Personalentscheidungen, sodass integrative Entscheidungsprozesse, die das Beste aus Big-Data-Komplexitätsmanagement und menschlicher Intuition verbinden, ermöglicht werden. Indem aber suggeriert wird, dass alles in Zahlen beziehungsweise Punkten darstellbar ist, besteht die Gefahr, dass menschliche Entscheidungsträger verlernen, ihrer Intuition zu vertrauen und vermehrt auf Grundlage von KIs entscheiden.

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Mit der Frage nach der Zukunft der Arbeit unter dem Einfluss der digitalen Transformation(en) haben sich viele Expertinnen und Experten befasst – sei es mit klugen Szenarien (zum Beispiel Werther/Bruckner 2018), Überlegungen zu Gestaltungsmöglichkeiten (Hirsch-Kreinsen 2020) oder Studien, zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung oder der Bundesagentur für Arbeit und Soziales (BMAS). Bei aller Vielfalt der Perspektiven teilen die Beiträge die Kernaussage, dass über die Zukunft der Arbeit nichts Gesichertes ausgesagt werden kann. Es bleibt völlig offen, wie menschliche Arbeit und digitale Technologie zusammenspielen und wie sich dies auf Arbeitsmärkte, Tätigkeiten und Qualifikationen auswirken wird, zumal Entwicklung und Anwendung vieler "smarter" Technologien erst am Anfang stehen.

Arbeitswelt 5.0 geprägt von intelligenten Assistenten und Robotern

Im Bonuspunkte-Szenario ist die viel beschworene "Arbeitswelt 5.0" voll etabliert. Stand die Arbeitswelt 4.0 im Fokus der vernetzten Digitalisierung und der Flexibilisierung von Arbeitsort, -zeit, -organisation und Handlungsfreiheit, ist die Arbeitswelt 5.0 zusätzlich von intelligenter Assistenz, lernenden Robotern und benutzeroptimierten Informationen geprägt. Für die Beschäftigten bedeutet das vor allem die Abschaffung geistiger Routinetätigkeiten zugunsten anspruchsvollerer Jobs (mehr dazu, wie künstliche Intelligenz den Arbeitsplatz 5.0 gestaltet, lesen Sie hier).

Als relativ nachgefragt werden sich vor allem zwei Tätigkeitsfelder erweisen: Erstens Tätigkeiten im Bereich Coding und Programmierung, die dabei unterstützen, KI lernfähiger und intuitiver zu machen. Zweitens Tätigkeiten im Bereich Menschenführung, agiler Prozessentwicklung und kreativer Problemlösung, die von KIs nicht substituiert werden können. Bonuspunkte werden maßgeblich mitbeeinflussen, wer die begehrten, gegebenenfalls aber auch begrenzt verfügbaren Fort- und Weiterbildungsangebote ohne Wartezeit wahrnehmen darf.

"Reputationsscore" könnte Recruiting beeinflussen

Das digitale Punktesystem bietet Orientierung und Transparenz über die eigene Stellung und Aufstiegschancen. Auf Grundlage eines differenzierten Punktesystems ist denkbar, dass leistungsfähige KI-Systeme viele Aspekte der Personalrekrutierung, vor allem in der Vorauswahl, übernehmen. Obgleich das Bonuspunktesystem nicht als Malus-System gedacht ist, ist denkbar, dass mit Personalauswahl, -bewertung, -entwicklung und -rekrutierung befasste KI-Systeme sämtliche Daten in eine Art "Reputationsscore" zusammenführen und in der Entscheidungsfindung mitberücksichtigen.

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Nicht zu unterschätzen ist, dass Arbeit auch ein soziales Phänomen ist und dass hochentwickelte KIs und Punktesysteme auch in den 2030er-Jahren nicht vollumfänglich erfassen können, wer zur Team- und Unternehmenskultur passt und wer nicht. Diese intuitive Bewertung ergibt sich aus dem Miteinander. Daher ist anzunehmen, dass bei der Personalrekrutierung dem Bonuspunktesystem und KI-Anwendungen eher eine Vorauswahlfunktion zukommt.

Gegenseitige Bewertung im "Plattform-Punkte-Kapitalismus"

Abgesehen davon wird das Bonuspunktesystem eine essenzielle Funktion zum Abbilden von Reputation und Erfahrung im B2B- und B2C-Kontext einnehmen. Ein bereits in den 2020er-Jahren bestehendes Beispiel hierfür stellt "MyLife.com" dar. So entsteht im Bourdieu’schen Sinne "soziales Kapital", bei dem man Reputation in Marktvorteile umtauschen kann (mehr dazu lesen Sie auch in diesem Tagesspiegel-Beitrag). Der "Plattform-Kapitalismus" der 2020er-Jahre hat sich so zu einem "Plattform-Punkte-Kapitalismus" weiterentwickelt. All dies setzt allerdings voraus, dass Punktevergabe nicht nur zentralisiert über den Staat erfolgen kann, sondern dass sich auch Menschen – in der Regel Leistungsnehmer gegenüber Leistungserbringer – gegenseitig bewerten können.

Kompetenzmanagement im Bonuspunktesystem

Das Bonuspunktesystem bildet nicht nur Reputation, sondern auch Kompetenz ab, was vor allem innerhalb von Unternehmen wichtig ist, da das System maßgeblich den kontinuierlichen Weiterbildungs- und Leistungsdruck in der Arbeit bestimmt. Bestanden noch in den 2020er-Jahren in sämtlichen Unternehmen unterschiedliche Systeme, Kompetenz von Mitarbeitenden zu erfassen und Kompetenzbedarfe im Betrieb abzubilden, hat die Einführung des Punktesystems, auf das alle Organisationen zugreifen können, eine transparent einsehbare und unternehmensübergreifend vereinheitlichende Bewertungsgrundlage.

Neue Wirtschaftszweige in der Leistungsgesellschaft 2.0

Die Einführung des Punktesystems und die damit verbundene Implikation, die eigenen Aufstiegschancen zu verbessern, wird neue Wirtschaftszweige und Betätigungsfelder eröffnen, die ganz im Zeichen einer Art "Leistungsgesellschaft 2.0" stehen.

Sehr wahrscheinlich wird es Beratungsangebote geben, sei es durch erstens menschliche Scoring-Coaches für Fach- und Führungskräfte sowie für ganze Unternehmen oder zweitens durch hochintelligente Apps oder drittens einer Kombination aus beidem. Sämtliche Beratungen werden darauf aufbauen, das Scoring-Profil der Klientinnen und Klienten zu analysieren und auszuwerten und auf Grundlage vielfältiger, auch intimster Daten, die der Klient oder die Klientin zur Verfügung stellt, Strategien zu entwickeln, um den eigenen Score zu verbessern. Analog dazu sind Beratungsangebote im Sinne eines "Life Coaching 2.0" denkbar, bei denen Nutzerinnen und Nutzer, unabhängig vom Scoring, maßgeschneidert beraten werden, wie sie erfolgreicher in Karriere, Fitness, Liebe und anderen Bereichen werden können. Dies passiert auch auf Grundlage einer umfassenden Freigabe intimster Daten, die von einer leistungsfähigen KI ausgewertet werden.

Andere Betätigungsfelder sind eher im wissenschaftlichen und politikberatenden Sektor denkbar, in denen es darum geht, das sich aus dem digitalen Punktesystem ergebende Liquid-Democracy-System weiterzuentwickeln und die neuen Möglichkeiten, die aus Big Data und KI erwachsen, zur Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft zum Vorteil der Lebensqualität der Menschen zu nutzen. Das Stichwort hier ist "Life Engineering". Auch dieses Betätigungsfeld benötigt Zugang zu anonymisierten Personen- und Sachdaten, die von Unternehmen und Staaten gesammelt werden. Auf dieser Grundlage leiten Life-Engineering-Berater und ihre digitalen Assistenten ab, wie das Verhalten die Lebensqualität bestimmt und Bürgerinnen und Bürger sowie die Gesamtgesellschaft zu höherem psychischem Wohlbefinden verholfen werden kann (Osterle 2020).

Andere wichtige Betätigungsfelder finden sich im Cybersecurity-Bereich und tragen der hohen Verwundbarkeit Rechnung, die sich aus der dichten digitalen Infrastruktur ergibt, die die Gesellschaft durchdringt und die das digitale Punktesystem überhaupt erst ermöglicht. Das Stichwort ist "Zero-Day-Exploit", also einfache Fehler in Software oder Hardware, die nicht ohne Weiteres erkannt werden und große Schwierigkeiten in Form von Daten-, Identitäts- und gegebenenfalls auch Punktediebstahl durch Cyberkriminelle bereiten können, bevor die Folgen überhaupt entdeckt werden.

Auswirkungen auf die Resilienz und Psyche im Berufskontext

Es ist anzunehmen, dass die Arbeits- und Lebenswelt in der Welt des Bonuspunktesystems keineswegs stressfreier sein wird – hoher Konkurrenz- und Leistungsdruck infolge der Ausweitung des sozialen Wettbewerbs werden eher zunehmen. Maßgeschneiderte Life-Coaching-Angebote eröffnen durchaus Möglichkeiten, die eigene Effizienz zu steigern, doch besteht Grund zur Annahme, dass einige grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt werden.

Intrinsische Motivation und unternehmerische Sinnstiftung leidet

In der Welt des Bonussystems ist die Mehrheit der Menschen von ihrem Score abhängig und wird danach ihren Lebenssinn ausrichten. Durch das ständige Streben nach Bonuspunkten und guten Bewertungen, dürften menschliche Begegnungen oft oberflächlich oder unaufrichtig wirken. Es ist anzunehmen, dass trotz hoher Erfolge in der Weiterentwicklung von KI und Soziophysik, durch die menschliches Verhalten und Bedürfnisse in vielen Kontexten immer besser antizipiert werden kann, tief gehende persönliche Daseinsfragen, wie "Wer bin ich?" und "Warum bin ich hier?" nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Vor allem können sie keine intrinsische Motivation und Sinnstiftung liefern. Im Gegenteil ist denkbar, dass die Enttäuschung über die Leere, die das Streben nach Bonuspunkten hinterlässt, zu einem neuen Typus existenzialistischer Sinnkrisen führen kann. Bedürfnisse nach "Echtheit" und "Selbstbestimmung", die durchaus wesentlicher Bestandteil individualistischer Gesellschaften wie Deutschland sind, bleiben unerfüllt. Daraus könnte weiteres Stresspotenzial erwachsen.

Ähnliche Fragen stellen sich auch im Kontext kollektiver Sinnstiftung: Wie wirkt sich das Bonuspunktesystem, das paradoxerweise nicht nur das Einhalten von Werten reguliert, sondern auch Werte vorgibt, auf die unternehmerische Sinnstiftung aus? Die Gefahr könnte darin bestehen, dass die intrinsische Motivation und bestimmte Kontexte gesellschaftlicher Verantwortung, die nicht vom Bonussystem vorgegeben werden, nicht angemessen gewürdigt werden. Somit besteht die Gefahr, dass Menschen und Organisationen (For-Profit und Non-Profit) nur die kennzahlrelevanten Tätigkeiten optimieren, andere jedoch vernachlässigen würden. Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und kreativ zu werden, könnte gemindert werden.

Neue Diskriminierungspotenziale

Es ist auch davon auszugehen, dass ein Bonuspunktesystem neue Hierarchien und damit Diskriminierungspotenziale schafft. Besser bewertete Menschen erhalten viele verschiedene Vorteile und genießen gegebenenfalls Exklusivität (zum Beispiel exklusive Bars oder Life-Style-Communities für Menschen ab einem hohen Score). Auch wenn das System auf Freiwilligkeit beruht, dürfte für Gegner des Systems die Gefahr bestehen, ins "soziale Außenseitertum" abzurutschen. All dies schafft neue Formen von Stress im Berufs- und Privatleben.

Psychische Resilienzförderung und Burnout-Prävention werden, abgesehen von den bisher gängigen Themen, wie zum Beispiel Zeitmanagement, Mindfulness, Burnout-Prävention, Kommunikation und Konfliktmanagement, Entspannung, Work-Life, vermehrt auch im Kontext von Sinnstiftung und in Beantwortung "existenzialistischer Sinnkrisen 2.0" nachgefragt werden.

Hintergrund: "Strategische Vorausschau" des BMBF-Zukunftskreises

Das Digitale Punktesystem ist eines von sechs Szenarien, die der Zukunftskreis des Bundesforschungsministeriums im Rahmen der " Strategischen Vorausschau" entworfen hat. Basis für die Szenarien ist die BMBF-Studie Studie "Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land".

Den ausführlichen Studienbericht mit allen sechs Szenarien finden Sie hier.


Im Text zitierte Literatur:

Esping-Andersen, G. (1990): Three Worlds of Welfare Capitalism, Oxford.

Fathi, K. (2013): Conflict potentials of different welfare regimes – a metatheoretical perspective, in: Karolewski, I. P. / Suszyki, A. M. (Hrsg.): Identity, Citizenship and Welfare: National and International Perspectives. Fibre: 41-74.

Brynjolfsson, E. / McAfee, A. (2014): The Second Machine Age. GGP Media.

Mau, S. (2020): Das metrische Wir - Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp.

Werther, S. / Bruckner, L. (2018): Arbeit 4.0 aktiv gestalten – Die Zukunft der Arbeit zwischen Agilität, People Analytics und Digitalisierung. Springer.

Hirsch-Kreinsen, H. (2020): Digitale Transformation von Arbeit – Entwicklungstrends und Gestaltungsansätze. Kohlhammer.

Osterle, H. (2020): Life Engineering. Machine Intelligence and Quality of Life. Springer International Publishing.


Zum Autor:

Dr. Karim Fathi ist Mitglied des Zukunftskreises des BMBF sowie Mitglied der European School of Governance. Er arbeitet als Forscher und Berater in den Bereichen Konfliktmanagement, Problemlösung und Resilienzförderung. Hier gelangen Sie zu seiner Homepage.


Tipp: Vorausschau live

Am Dienstag, 22. Juni 2021, startet die neue digitale Veranstaltungsreihe "Vorausschau live". In den sechs Folgen betrachten Expertinnen und Experten des BMBF-Zukunftskreises aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Berufssparten die Welt von morgen aus einem realistischen, produktiven, nachhaltigen und lösungsorientierten Blickwinkel.


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