Arbeitswelten 2050: Szenario liberale Wirtschaftsordnung

Der Vorausschau-Prozess des Bundesministeriums für Bildung und Forschung betrachtet gesellschaftliche Fragen der Zukunft. Vom Zukunftsbüro wurden sechs unterschiedliche Zukunftsbilder entwickelt. Das Szenario "Wettbewerbsmodus" beschreibt eine digitalisierte, deregulierte und hierdurch dynamisierte Lebenswelt. Wie würde sich das auf die Arbeitswelt auswirken?

Die Digitalisierung scheint aktuell der zentrale Treiber für gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen zu sein. Sie stößt beständig neue Türen auf, die Gesetzgebung und Marktakteure vor immer neue Fragen stellen. Gleichzeitig sprengt sie die Grenzen der Regulierung in vielerlei Hinsicht. Handelnde Akteure, Orte der Leistungserbringung, Wertschöpfung und Marktmodelle fallen auseinander. Klassische Produkte, wie das Automobil, werden digital. Damit verändern sie nicht nur ihren Charakter, sondern auch die Prozessketten und Strukturen der Wertschöpfung. Das Gesicht der Industriegesellschaft verändert sich ebenso wie die Bezüge der industriellen Arbeitswelt.

Mit den Szenarien des Foresight-Prozesses werden unterschiedliche zukünftige Lebenswelten beschrieben, die wiederum neue Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen eröffnen (zu einem PDF, das die Szenarien vorstellt, gelangen Sie hier). Das Szenario "Wettbewerbsmodus" fußt auf dem Konsens, dass nur eine Entfesselung der Marktkräfte Deutschland die Option bietet, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Der Staat zieht sich in die Rolle des Hüters eines fairen Wettbewerbs zurück, der den Akteuren den größtmöglichen Grad an Marktpartizipation eröffnet und sich auf seine Kernfunktionen besinnt: Verzerrungen des Marktes zu korrigieren und ein Mindestmaß an sozialstaatlicher Absicherung bereitzustellen.

Szenario liberale Wirtschaftsordnung: Dynamik als Leitbild

Im "Wettbewerbsmodus" hat sich Deutschland zu einem Land der Gründerinnen und Gründer entwickelt. Entbürokratisierung und Deregulierung bildeten hier wichtige Voraussetzungen. Das Rekordhoch von Selbstständigen ist zugleich ein Indiz, dass ein Mentalitäts- und Wertewandel in der Arbeitswelt stattgefunden hat. Die eigene Leistung gilt als Benchmark und ist zugleich die Voraussetzung für zahlreiche neue Geschäftsmodelle. Hier haben sich neue Optionen dadurch entwickeln können, dass Daten als "öffentliches Gut" anerkannt wurden und damit für vielfältige Nutzungsmöglichkeiten verfügbar sind. Mit der Einführung eines persönlichen Haftungsprinzips für Inhaberinnen und Inhaber von Unternehmen, aber auch Mitgliederinnen und Mitglieder des leitenden Managements, konnte ein wirksamer Mechanismus der Selbstdisziplinierung etabliert werden - auch und gerade in Bezug auf die missbräuchliche Nutzung persönlicher Daten.

Die Attraktivität der Selbstständigkeit bedeutet für den Arbeitsmarkt eine weitere Verknappung qualifizierter Fachkräfte. Die Rekrutierung des Personals wird aufwändiger, flexibler und internationaler. Angesichts der entfalteten Dynamik hat der Standort jedoch an Attraktivität deutlich gewonnen. Internationale Fachleute müssen nicht besonders motiviert werden, nach Deutschland zu kommen oder in virtuellen Arbeitszusammenhängen für deutsche Unternehmen zu arbeiten. Gleichzeitig motiviert die Verknappung des Arbeitskräfteangebots zu einer weitgehenden Automatisierung der industriellen Produktion. Die geringen Basisleistungen einer staatlichen Altersversorgung führen einerseits dazu, dass sich für viele die Lebensarbeitszeit deutlich verlängert, andererseits in allen Lebensphasen private Vorsorge betrieben werden muss.

Wie bereits heute: Chancen durch Bildung und Qualifikation

Handlungsoptionen bieten sich vor allem für jene, die über eine umfassende "Data Literacy" verfügen und bereit sind, ihr Kompetenzprofil beständig weiterzuentwickeln. Die Herausforderungen der Steuerung von Unternehmen, gerade bei Gründerinnen und Gründern, führen dazu, dass viele Tätigkeiten sowohl aus dem geschäftlichen als auch im privaten Bereich als einfache Dienstleistungen externalisiert werden. Neben den datenaffinen, digitalen Gründungsunternehmen treffen wir somit auf eine Vielzahl von prekären Erwerbsverläufen mit hoher Krisenanfälligkeit – entweder in Selbstständigkeit oder in abhängiger Beschäftigung.

Die wirtschaftsliberale Gesellschaft kennt folglich Spaltungen und muss mit ihrem Selbstverständnis entsprechende Mechanismen etablieren, die die Prinzipien von Eigeninitiative und Eigenverantwortung für alle lebbar machen. Das bedeutet, bei Arbeitsplatzverlust einen raschen Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, oder Gründerpersönlichkeiten mit einer einmal gescheiterten Idee neue Ressourcen für den nächsten Schritt beziehungsweise die nächste Geschäftsidee bereitzustellen. Wagniskapital und Investitionen in neue Technologien und Geschäftsmodelle durch Crowd Financing haben hier neue Gestaltungsräume eröffnet. Da Vorsorge vor allem individuell und freiwillig zu leisten ist, besteht ein hoher Handlungsdruck, sich entsprechende finanzielle Spielräume zu erschließen und auch privat in wachstumsorientierte Modelle zu investieren.

Betriebe als fluide Orte

Betriebe als soziale Orte werden fluide. Der hohe Automatisierungsgrad, zahlreiche digitale Geschäfts- und Marktmodelle mit verteilten Akteuren und Rollen sowie prekäre und befristete Beschäftigung in einfachen Dienstleistungstätigkeiten definieren die Arbeitswelt neu. Ein "mir schaffe beim Daimler" und damit eine (erwerbs-) lebenslange Betriebszugehörigkeit werden immer seltener. Für das Management bedeutet dies: ein "Wir-Gefühl" braucht zusätzliche Impulse. Neugründungen benötigen frühzeitig eine unternehmerische Identität, um für Hochqualifizierte attraktiv zu sein. Ob diese dann noch an einen Betrieb geknüpft ist oder an Wertschöpfungsnetzwerke oder die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen fachlichen oder marktlichen Communities, bleibt abzuwarten.

Aushandlungsprozesse über Arbeitszeiten und -entgelte, Rahmenbedingungen der Arbeit und anderes mehr verlagern sich in die Betriebe hinein. Die Knappheit der Ressource Mensch stärkt jedoch die Position der Einzelnen in den Verhandlungen – solange sie über Qualifikation und nachgefragte Kompetenzen verfügen. Zu erwarten ist, dass in diesen Aushandlungen der Unternehmenserfolg eine deutlich stärkere Bedeutung erhalten wird und damit die variablen Bestandteile der Vergütung zunehmen. Angesichts der hohen Verdichtung von Arbeit werden dabei auch nicht-finanzielle Komponenten im Sinne von Zeitguthaben immer attraktiver. Parallel definiert der Staat Mindeststandards von Arbeitsbedingungen und konzentriert sich in seiner Arbeitsmarktpolitik auf eine rasche Vermittlung. Auch hier haftet die Unternehmensleitung vor dem Hintergrund einer deutlich verringerten Regelungsdichte persönlich für die Anerkennung und Umsetzung.  

Größere Stresspotenziale, aber auch größere Gestaltungspotenziale

Das Rad dreht sich schneller für alle Beteiligten, die Lebensläufe werden diskontinuierlicher. Doch Gesellschaft, Wirtschaft und Staat haben in unserem Szenario gelernt, damit umzugehen. Wohl wissend, dass sich durch Entbürokratisierung, höhere Eigenverantwortung und geforderte Eigeninitiative individuell sowohl deutlich größere Stresspotenziale als auch weitgehende Gestaltungspotenziale bieten. In dieser Arbeitswelt müssen nicht nur jede und jeder Einzelne ihre Rollen neu definieren und immer wieder überprüfen. Auch die Sozialpartner sind gefordert, dynamische, flexible, auf spezifische Fragen zugespitzte Organisationslösungen zu finden, die einer vollständigen Individualisierung der Arbeit Einhalt gebieten können.


Zu den Autoren:

Michael Astor ist Partner der Prognos AG und Direktor Wirtschaft, Innovation, Region. Die Prognos AG und Z_punkt bilden gemeinsam das Zukunftsbüro des BMBF im laufenden Foresight-Prozess.

Christian Grünwald ist Foresight Director bei Z_punkt The Foresight Company


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Schlagworte zum Thema:  Digitalisierung, HR-Management