Rz. 715

Die auf die Missbrauchskontrolle beschränkte Überprüfung organisatorischer Unternehmerentscheidungen macht es nicht entbehrlich, gerichtlich zu prüfen, ob die Organisationsänderung die Kündigung unvermeidbar macht, oder ob das geänderte unternehmerische Konzept nicht auch durch andere Maßnahmen verwirklicht werden kann (BAG, Urteil v. 18.1.1990, 2 AZR 183/89[1]). Es muss unter mehreren geeigneten Mitteln dasjenige gewählt werden, welches den betroffenen Arbeitnehmer am wenigsten belastet.[2] Als gleich geeignete, aber mildere Maßnahmen, die der Verhältnismäßigkeit einer Kündigung entgegenstehen können, kommen nur solche Mittel in Betracht, die gleich wirksam sind, um das unternehmerische Ziel zu erreichen (BAG, Urteil v. 8.11.2007, 2 AZR 418/06). Diskutiert wird eine Vielzahl von Maßnahmen auf technischer, wirtschaftlicher oder organisatorischer Ebene:

  • Kurzarbeit, Arbeitszeitverkürzung,
  • Abbau von Überstunden,
  • Vorziehen von Werksferien,
  • Arbeitsstreckung sowie
  • Arbeiten auf Vorrat.
 

Rz. 716

Nicht jede mildere Maßnahme steht jedoch der Wirksamkeit einer Kündigung entgegen. Hierzu im Einzelnen:

[1] AP KSchG 1969 § 2 Nr. 27, NZA 1990 S. 734.
[2] Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts im Arbeitsverhältnis, 1987, S. 265 f.

4.2.2.2.1 Kurzarbeit, Abbau von Überstunden o. Ä.

 

Rz. 717

Es ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber einen Arbeitskräfteüberhang etwa durch den Abbau von Überstunden, das Vorziehen von Werksferien oder die Beendigung von Arbeitnehmerüberlassungsverträgen überbrücken kann. Insbesondere flexible Arbeitszeitregelungen, die auf der Grundlage einer Jahresarbeitszeit den Aufbau ganz erheblicher Stundenguthaben ermöglichen, können einer betriebsbedingten Kündigung in arbeitsschwachen Zeiten entgegenstehen oder zumindest das Erfordernis zu betriebsbedingten Kündigungen zeitlich hinausschieben; der Abbau der Guthaben geht nach Sinn und Zweck einer solchen Arbeitszeitregelung der Vertragsbeendigung vor (BAG, Urteil v. 8.11.2007, 2 AZR 418/06[1]). Die alternative Maßnahme muss sich konkret auf den betroffenen Arbeitsplatz beziehen. So kann der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess nicht allgemein entgegenhalten, es würden im Betrieb nach wie vor erhebliche Überstunden anfallen, wenn diese nicht den arbeitsplatzbezogenen Arbeitskräfteüberhang betreffen.

 

Rz. 718

Ob der Arbeitgeber verpflichtet ist, zur Vermeidung von Kündigungen Kurzarbeit einzuführen, ist höchstrichterlich noch nicht abschließend entschieden und in der Literatur umstritten. Teilweise wird angenommen, die Einführung von Kurzarbeit liege im unternehmerischen Ermessen und ein Verzicht auf Kurzarbeit könne nur auf Willkür oder Unsachlichkeit geprüft werden.[2] Das BAG hat in einer Reihe von Entscheidungen ebenfalls auf die eingeschränkte Nachprüfbarkeit des unternehmerischen Konzepts hingewiesen (BAG, Urteil v. 4.3.1986, 1 ABR 15/84[3]; BAG, Urteil v. 11.9.1986, 2 AZR 564/85[4]), vereinzelt die Frage des Vorrangs der Kurzarbeit vor einer Beendigungskündigung ausdrücklich offengelassen (BAG, Urteil v. 15.6.1989, 2 AZR 600/88[5]) oder die Kurzarbeit als milderes Mittel ausdrücklich in Betracht gezogen (BAG, Urteil v. 26.6.1997, 2 AZR 494/96[6]).

 

Rz. 719

Grds. stehen Kurzarbeit und betriebsbedingte Kündigungen nicht in einem Rangverhältnis und damit kann die Kurzarbeit nicht als zwingendes milderes Mittel angesehen werden. Denn die Einführung von Kurzarbeit kommt ohnehin nur dann in Betracht, wenn ein vorübergehender Arbeitsausfall vorliegt (vgl. § 96 Abs. 1 SGB III). Sind diese und die weiteren betrieblichen und persönlichen Voraussetzungen für die Kurzarbeit erfüllt, kann eine Kündigung mangels eines dauerhaft prognostizierten Rückgangs des Beschäftigungsbedarfs ausgeschlossen sein (vgl. hierzu BAG, Urteil v. 23.2.2012, 2 AZR 548/10[7]). Im Übrigen mag ein Rangverhältnis in den Fällen in Betracht kommen, in denen kurzfristige Kündigungsfristen und längerfristige Voraussetzungen für Kurzarbeit zusammentreffen und die Kurzarbeit als verhältnismäßiges Mittel anzusehen ist.[8]

 

Rz. 720

Des Weiteren müssen die sonstigen individual- und kollektivrechtlichen Voraussetzungen der Kurzarbeit vorliegen, d. h. die Einführung von Kurzarbeit muss rechtlich und tatsächlich möglich sein. So ist ein gewählter Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG bei der vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit zu beteiligen. In Betrieben ohne Betriebsrat setzen die Einführung der Kurzarbeit und die entsprechende Einkommenseinbuße die Zustimmung der Arbeitnehmer voraus. Vom Arbeitgeber kann insoweit nicht verlangt werden, individual- oder kollektivrechtliche Hürden erst durch die Führung von Gerichtsprozessen zu überwinden. Auch hat der Arbeitgeber bei einem Widerspruch durch den Betriebsrat nicht das Einigungsstellenverfahren einzuleiten.[9]

 
Hinweis

Hat der Betriebsrat von seinem Initiativrecht zur Einführung von Kurzarbeit gem. § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG Gebrauch gemacht, muss der Arbeitgeber bei Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung vor Abschluss der Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung mit einem e...

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