Entscheidungsstichwort (Thema)

"Wichtiger Grund" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Rechtfertigung des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit durch Corona-Tests. Freiheit der Berufsausübung und tägliche Testpflicht nach der gesetzlichen "3G-Regelung". Kein Annahmeverzug des Arbeitgebers bei Leistungsunwilligkeit des Arbeitnehmers. Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Beharrliche Arbeitsverweigerung kann einen wichtigen Grund darstellen.

2. Ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG steht in materieller Hinsicht mit dem Grundgesetz in Einklang. Die Regelung genügt dem Vorbehalt des Gesetzes und ist hinreichend bestimmt sowie normenklar. Sie ist nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Belastungen gerechtfertigt.

3. Die 3G-Regel für Arbeitsstätten verletzt den Arbeitnehmer nicht in seiner Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Denn auch eine Testung, die maximal 24 Stunden zurückliegen darf, ist nur eine geringfügige Beeinträchtigung der von Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheit der beruflichen Betätigung. Dieser Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist zum Schutz vulnerabler Menschen gerechtfertigt

4. Nach § 297 BGB kommt der Arbeitgeber nicht in Verzug, wenn der Arbeitnehmer zur Zeit des Angebots außerstande ist, die Leistung zu bewirken. Der Annahmeverzug des Arbeitgebers ist damit ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer nicht leistungsfähig oder nicht leistungswillig ist. Ein leistungsunwilliger Arbeitnehmer setzt sich selbst außer Stande, die Arbeitsleistung zu bewirken.

5. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

6. Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

 

Normenkette

BGB § 275 Abs. 1-2, § 626 Abs. 1-2; IfSG § 28b; LPersVG RP § 83 Abs. 3; SchAusnahmV § 2 Nr. 7 a.F.; TestV a.F. § 6; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 12 Abs. 1; SchAusnahmV § 2 Nr. 2 a.F., Nr. 4 a.F., Nr. 6 a.F.; BGB §§ 294-297, 611 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 30.06.2022; Aktenzeichen 6 Ca 87/22)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 30.06.2022, Az.: 6 Ca 87/22, wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen ihren durch die außerordentliche Kündigung vom 15.03.2022.

Die 1966 geborene, verheiratete und keinem Kind zum Unterhalt verpflichtete Klägerin ist seit 16.06.2003 bei der Beklagten als Sachbearbeiterin, zuletzt aufgrund des Änderungsvertrages vom 25.11.2021 (Bl. 7 d. A.) seit 01.01.2022 in der Geschäftsbuchhaltung, Kämmerei in Teilzeit (19,5 Stunden/Woche) bei circa 1.700,00 € brutto monatlich (Entgeltgruppe 6 Stufe 5 TVöD) beschäftigt. Zuvor war sie in der VHS als Sachbearbeiterin in der Entgeltgruppe 7 mit einem Stundenumfang von 25 Stunden/Woche beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD im Bereich Verwaltung Anwendung.

Zur Einhaltung der 3G-Regel am Arbeitsplatz zeigte die Klägerin in der Zeit vom 17. bis 20. Januar 2022 dem Amtsleiter der Kämmerei, Herrn Dr. D., Testbescheinigungen vor, die sie über das Internet-Portal www.test-express.de erhalten hatte. Diese Testnachweise wurden zunächst vorbehaltlich einer weiteren Überprüfung durch das Personalamt als Nachweis im Sinne der § 2 Nr. 7 SchAusnahmV akzeptiert.

Test Express beschreibt sich auf seiner Homepage (Ausdruck Bl. 51 d. A) wie folgt:

"Über uns

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