Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 06.12.1990; Aktenzeichen L 7 Ar 453/89)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1990 aufgehoben, soweit die Anerkennung der Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 als Beitragszeit abgewiesen worden ist.

Der Rechtsstreit wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 als Beitragszeit anzuerkennen.

Laut Eintragung in die Lehrlingsrolle der Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz begann der Kläger seine Lehrzeit am 1. April 1953 bei der Firma G. … G. …, P. …. Der Kläger ist im Besitz einer am 30. April 1955 ausgestellten Quittungskarte Nr 1, die, soweit leserlich, folgende Einträge der Firma G. … G. …, P. …, enthält:

„01.04. bis 1237 … 1953 … DM 432,– IK Neumarkt”

Die darunter liegende Spalte enthält folgende Einträge:

„1954”, wobei die „4” durchgestrichen ist und in derselben Spalte „beschäftigt gegen Entgelt von/bis” 01.01. durchgestrichen „53” „bis 30.12.”, danach durchgestrichene unverständliche Zeichen, „DM 925,–” und „IK Neumarkt”.

Die Quittungskarte Nr 1 wurde durch die Ausgabestelle am 13. April 1958 aufgerechnet und eine entsprechende Aufrechnungsbescheinigung erstellt. In dieser ist eingetragen, daß für die Zeit vom 1. April 1953 bis 31. Dezember 1953 bei einem Entgelt von DM 432,– und vom 1. Januar bis 31. Dezember 1954 bei einem Entgelt von DM 925,– von der Firma G. … G. …, P. …, Beiträge zur Invalidenversicherung zur IKK Neumarkt abgeführt worden sind. Darauf folgt in der dritten Spalte die Eintragung, daß für die Zeit vom 29. Mai 1955 bis 31. Dezember 1955 bei einem Entgelt von DM 1.215,75 von der Firma K. … G. …, H., Beiträge zur IKK Neumarkt abgeführt worden sind.

Am 13. Mai 1986 wurde dem Kläger von der Beklagten ein Versicherungsverlauf übersandt, der – aufgrund einer Nachfrage der Beklagten bei der IKK Neumarkt – mit Pflichtbeiträgen ab dem 29. April 1955 beginnt und in dem die Anrechnung der Zeit vom 1. März 1953 bis 31. März 1955 als Beitragszeit abgelehnt wurde. Nach Erhalt des Versicherungsverlaufs beantragte der Kläger einen rechtsmittelfähigen Bescheid und legte hierzu die obengenannte Aufrechnungsbescheinigung vor. Mit Bescheid vom 3. April 1987 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Zeit vom 1. März 1953 bis 31. März 1955 erneut ab. Die Zeit könne als Beitragszeit nicht anerkannt werden, da Beiträge nicht tatsächlich abgeführt worden seien und die Eintragung in die Quittungskarte Nr 1 bezüglich dieser Zeit unschlüssig und daher nicht durch § 1423 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) geschützt sei. Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1987 zurück.

Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) ab (Urteil vom 25. Januar 1989). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 30. April 1954 bis 31. Dezember 1954 als Beitragszeit anzuerkennen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, daß die Anerkennung dieses Zeitraumes nach § 1423 Abs 1 iVm Abs 2 RVO erfolge. Der Beanstandungsschutz des § 1423 Abs 2 RVO gelte allerdings nur für solche Eintragungen, die den Anforderungen des § 1423 Abs 1 RVO entsprächen. Beide Vorschriften seien im Zusammenhang zu lesen. Deshalb könne für den Kläger nur die Zeit vom 30. April 1954 bis 31. Dezember 1954 angerechnet werden. Darüber hinausgehende Zeiten seien von einem Bestandsschutz nicht erfaßt (Urteil vom 6. Dezember 1990).

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 1423 RVO durch das Berufungsgericht.

In der heutigen mündlichen Verhandlung beantragt der Kläger noch,

das Urteil des SG Regensburg vom 25. Januar 1989 aufzuheben sowie das Urteil des Bayerischen LSG vom 6. Dezember 1990 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 als Beitragszeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben werden mußte, soweit die Anerkennung der nur noch streitigen Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 als Beitragszeit vom LSG abgewiesen worden ist. Da für diesen Zeitraum die festgestellten Tatsachen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zulassen, war der Rechtsstreit insoweit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

Rechtsgrundlage für die in der mündlichen Verhandlung eingeschränkte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sind die Vorschriften des Sozialgesetzbuches -Sechstes Buch- (SGB VI). Gemäß § 300 Abs 1 SGB VI finden die Vorschriften dieses Gesetzbuches von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann Anwendung, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Nach dieser Grundregel sind sowohl die Vorschriften über das in § 149 Abs 5 SGB VI geregelte Vormerkungsverfahren als auch die Regelungen des § 286 SGB VI über Versicherungskarten maßgeblich. Von § 300 Abs 1 SGB VI abweichende Regelungen über den Beginn der Anwendbarkeit neuen Rechts greifen nicht ein. Dies liegt im Blick auf die §§ 300 Abs 3, 301 bis 308 SGB VI schon deswegen auf der Hand, weil diese Ausnahmeregelungen ausdrücklich einen schon bestehenden Sozialleistungsanspruch voraussetzen, während im vorliegenden Fall nur über die Vormerkung rechtserheblicher Tatbestände für einen erst in der Zukunft liegenden Leistungsfall gestritten wird. Gleiches gilt aber auch für § 300 Abs 2 SGB VI, nach dem aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuches und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Denn auch hierdurch soll lediglich sichergestellt werden, daß auch bei rückwirkender Leistungserbringung das zum Zeitpunkt des Leistungsbeginns maßgebende Recht zum Zuge kommt. Schließlich steht der Anwendung des neuen Rechts durch das Revisionsgericht nicht entgegen, daß das Berufungsgericht das – erst am 1. Januar 1992 in Kraft getretene -SGB VI noch nicht anwenden konnte. Denn im Revisionsverfahren ist neues Bundesrecht zu beachten, wenn es das Streitverhältnis erfaßt (zu alledem ebenso bereits Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 25. Februar 1992 – 4 RA 34/91 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

Nach § 149 Abs 5 Satz 1 SGB VI stellt der Versicherungsträger, nachdem er das Versicherungskonto geklärt hat, die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid fest. Über die Anrechnung und Bewertung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten wird hingegen erst bei Feststellung einer Leistung entschieden (Satz 2 aa0). Gleichwohl hat die Beklagte einen zutreffenden Vormerkungsbescheid zu erlassen, wenn der Kläger ihn beantragt (vgl BSG in SozR 3-2200 § 1325 RVO Nr 1 und SozR 3-2200 § 1227a RVO Nr 7, jeweils mwN).

Der streitige Bescheid genügt dem insofern nicht, als der Kläger in der Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 in einem zukünftigen Leistungsfall möglicherweise den rechtserheblichen Tatbestand einer Pflichtversicherungszeit erfüllt hat. Für diese noch streitige Zeit können die Voraussetzungen des § 286 Abs 3 Satz 1 SGB VI vorliegen. Diese Vorschrift stimmt mit der bisherigen Regelung des § 1423 Abs 2 Satz 1 RVO überein, so daß die zu dieser Norm ergangene Rechtsprechung weiter zugrunde zu legen ist.

Der Beanstandungsschutz des § 286 Abs 3 Satz 1 SGB VI gilt nicht nur für solche Eintragungen in eine Versicherungskarte, die den Anforderungen des § 286 Abs 2 SGB VI entsprechen. § 286 Abs 3 Satz 1 SGB VI knüpft nur an die Tatsache der Aufrechnung an. Entgegen der Auffassung des LSG spielt es – anders als in § 286 Abs 2 SGB VI bzw in dem damit inhaltlich übereinstimmenden § 1423 Abs 1 RVO – keine Rolle, ob die Versicherungskarte rechtzeitig umgetauscht worden ist und ob die bescheinigten Beschäftigungszeiten länger als ein Jahr vor dem Ausstellungstag der Versicherungskarte liegen.

Die Quittungskarte Nr 1 ist aufgerechnet worden. Der Kläger hat die Versicherungskarte bei der Ausgabestelle eingereicht, die Karte ist aufgerechnet und in eine neue Versicherungskarte umgetauscht worden. Die Aufrechnungsbescheinigung ist dem Kläger auch bekannt gegeben worden (vgl hierzu BSG in SozR 2200 § 1423 Nrn 4 und 5).

Entgegen der Auffassung der Revision schützt § 286 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB VI allerdings nur die Eintragungen in der Versicherungskarte. Die Aufrechnungsbescheinigung ist dagegen vom Beanstandungsschutz nicht umfaßt. Zu unterscheiden sind die Versicherungskarte, die Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte und die Aufrechnungsbescheinigung. Während § 286 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB VI die Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte schützt, bezieht sich der Beanstandungsschutz in § 286 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB VI auf die Eintragungen in der Versicherungskarte selbst (vgl BSG, SozR Nr 9 zu § 1423; BSGE 49, 51, 53 = SozR 2200 § 1423 Nr 10 und Urteil des erkennenden Senats vom 11. September 1991 in SozR 3-2200 § 1423 Nr 1). Der Inhalt der Aufrechnungsbescheinigung ist daher nur im Rahmen der Beweiswürdigung der vom Bestandsschutz erfaßten Eintragungen in der Versicherungskarte von Bedeutung.

Insoweit weicht der Senat entgegen der Auffassung der Revision auch nicht von der Rechtsprechung des 11. Senats des BSG (BSGE 55, 265 ff = SozR 2200 § 1423 RVO Nr 15) ab. In dem dort entschiedenen Fall ging es um den Beanstandungsschutz von Ersatzbescheinigungen, die für verlorengegangene Versicherungskarten ausgestellt worden sind. Nur wenn die Versicherungskarte verloren gegangen ist, erstreckt sich der Beanstandungsschutz auch auf die ersatzweise ausgestellte Aufrechnungsbescheinigung. Im vorliegenden Fall ist die Versicherungskarte Nr 1 aber nicht verlorengegangen, so daß die Aufrechnungsbescheinigung bezüglich des Beanstandungsschutzes von § 286 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB VI nicht an ihre Stelle tritt.

Die Feststellungen des LSG zum Inhalt der Versicherungskarte Nr 1 reichen indes für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Da sich das LSG – von seinem Standpunkt aus zu Recht – nur mit den Eintragungen für die Zeit vom 30. April 1954 bis 30. Dezember 1954 befaßt hat, fehlen Feststellungen zu den anderen auf der Karte für die noch streitbefangene Zeit befindlichen Eintragungen. Insoweit kann der Senat den Inhalt der Versicherungskarte als Urkunde nicht selbst feststellen, da es sich hierbei um eine Tatfrage handelt. Insoweit muß nämlich von der Auslegung der Urkunde, dh der Ermittlung ihres rechtlichen Inhalts, die Feststellung dessen geschieden werden, was erklärt ist. Letzteres ist Sache des Tatrichters; er allein hat den Inhalt der Erklärung und sonstige Begleitumstände festzustellen.

Das LSG wird insofern ergänzend zu prüfen haben, ob die Eintragungen in der Versicherungskarte Nr 1 iVm den damals gezahlten Ausbildungsvergütungen auch bezüglich der Zeit vom 1. April 1953 bis 29. April 1954 Rückschlüsse auf den Entrichtungszeitpunkt zulassen, so daß die Anrechnung der Zeit als Pflichtbeitragszeit möglich ist. Falls das LSG dies verneint, wird es noch zu prüfen haben, ob eine Anerkennung des streitigen Zeitraums als Beitragszeit im Wege der Glaubhaftmachung einer Beschäftigungszeit gemäß § 286 Abs 5 SGB VI in Betracht kommt.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174183

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