Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 25.07.1978)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.03.1977)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. Juli 1978 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Berichtigungsbescheid der Beklagten vom 14. August 1974 und der Bescheid vom 7. November 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 1975 aufgehoben werden.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob die Beklagte eine Versicherungskarte berichtigen darf.

Über den 1912 geborenen Kläger, von Beruf Chemiker, liegt ua die am 8. Juni 1943 in München ausgestellte Versicherungskarte 2 (früher 1), aufgerechnet am 18. Dezember 1946, vor. Sie enthält die Eintragung des Arbeitgebers – Prof. Dr. W.… S…, Technische Hochschule München –, daß der Kläger in der Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1942 gegen ein Entgelt von 3.780,-- RM beschäftigt gewesen sei und daß die Beiträge an die Allgemeine Ortskrankenkasse München abgeführt worden seien.

Im Zuge einer Datenspeicherung änderte die Beklagte am 27. Mai 1974 die Arbeitgeber-Eintragung dahin, daß der Kläger 1942 erst vom 1. Juli an gegen ein Entgelt von nur 2.520,-- RM beschäftigt gewesen sei.

Hiervon erhielt der Kläger Kenntnis, als ihm die Beklagte unter dem 14. August 1974 einen entsprechenden “Versicherungsverlauf” zusandte. Auf die Einwendungen des Klägers hielt die Beklagte im Bescheid vom 7. November 1974 und, nach Widerspruch, im Widerspruchsbescheid vom 3. April 1975 an der Kartenänderung fest: Vor dem 1. Juli 1942 – Inkrafttreten der Zweiten Lohnabzugsverordnung (2. LAV) – hätten Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) nur unter Verwendung von Beitragsmarken entrichtet werden können; erst ab 1. Juli 1942 seien die Beiträge an die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung als Einzugsstellen abzuführen gewesen. Die ursprüngliche Eintragung sei daher offenbar unrichtig und in Anwendung des § 138 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu berichtigen.

Mit der dagegen erhobenen Klage hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in dem angefochtenen Urteil vom 25. Juli 1978 die stattgebende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Frankfurt am Main vom 3. März 1977 bestätigt und ausgeführt: Die Beklagte hätte die Versicherungskarte nur berichtigen dürfen, wenn die Unrichtigkeit der Eintragung aus der Karte selbst offensichtlich wäre. Dies sei nicht der Fall. Es sei nicht offensichtlich, daß – freilich unwirksame – Beiträge schon für eine Zeit vor dem 1. Juli 1942 im Lohnabzugsverfahren an die Krankenkasse abgeführt worden seien. Ebensowenig ergebe sich aus der Karte selbst, daß es sich um eine irrige Eintragung handele. Auch statuiere § 145 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nach Ablauf von zehn Jahren nach der Aufrechnung die förmliche Beweiskraft des Urkundeninhalts selbst. § 145 Abs 2 Nr 1 AVG erfasse auch Zeiten vor dem 1. Juli 1942.

Dieses Urteil bekämpft die Beklagte mit der zugelassenen Revision und bringt vor: Unzutreffend sei, daß § 145 Abs 2 AVG auch auf Entgelteintragungen vor dem 1. Juli 1942 Anwendung finde. Der Vorläufer dieser Bestimmung – § 11 Abs 2 der Durchführungsverordnung zur 2. LAV – sei erst zum 1. Juli 1942 in Kraft getreten. Da das geltende Recht die Entrichtung von Beiträgen im Lohnabzugsverfahren vor dem 1. Juli 1942 ausschließe, sei der klassische Fall einer offensichtlich unrichtigen Entgelteintragung gegeben, wobei – das könne dem Kläger eingeräumt werden – auch das nicht beitragspflichtige Entgelt, im vorliegenden Fall also ein Entgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 3.600,-- RM, zugrunde gelegt werden könne. Die Feststellung des LSG, ausnahmsweise hätten innerhalb der zulässigen Nachentrichtungsfristen nach dem 1. Juli 1942 schon für Zeiten vorher Beiträge an die Krankenkasse abgeführt werden können, gehe fehl; insoweit habe das LSG § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verletzt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Frankfurt vom 3. März 1977 abzuweisen mit der Maßgabe, daß in der Versicherungskarte Nr. 1 des Klägers eine Entgelteintragung für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1942 in Höhe von 3.600,-- RM bestehen bleibt.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Die Änderung einer Eintragung in einer Versicherungskarte durch den Rentenversicherungsträger ist ein Verwaltungsakt, dessen Aufhebung der Versicherte gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 SGG mit der Anfechtungsklage begehren kann. Das folgt daraus, daß die Versicherungskarte nach § 133 Abs 1 AVG (= § 1411 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung – RVO) zum Nachweis ua der durch Abführung an einer Einzugsstelle entrichteten Beiträge dient, § 145 Abs 1 (= § 1423 Abs 1 RVO) insoweit bestimmte Vermutungen aufstellt und Abs 2 aaO schließlich unter bestimmten weiteren Voraussetzungen die Unanfechtbarkeit der Eintragungen festlegt. Das AVG (die RVO) schützt durch die genannten Vorschriften mithin – auch – das Interesse des Versicherten am Bestand der Eintragungen in der Versicherungskarte (BSG in SozR Nr 9 zu § 1423 RVO; der erkennende Senat in BSGE 37, 219, 221 = SozR 2200 § 1423 Nr 2). In die hiernach zugunsten des Versicherten rechtlich geschützte Position greift der Versicherungsträger ein, wenn er die Eintragungen in der Karte ändert, er regelt hierdurch mit unmittelbarer Wirkung gegenüber dem Versicherten auf dem Gebiet des Rentenversicherungsrechts einen Einzelfall, erläßt also einen anfechtbaren Verwaltungsakt (vgl statt vieler zB Meyer-Ladewig, SGG, § 54, Anm 2).

Dies ist auch im vorliegenden Fall durch die von der Beklagten vorgenommene Änderung der Eintragungen in der Versicherungskarte Nr 2 des Klägers geschehen, wobei die “Berichtigung” vom 27. Mai 1974 freilich erst mit der Bekanntgabe an den Kläger nach außen wirksam werden konnte. Nach den Feststellungen des LSG ist dies erfolgt, als die Beklagte dem Kläger unter dem 14. August 1974 einen Versicherungsverlauf zusandte, der eine entsprechende Änderung der Versicherungskarte erkennen ließ. Am 7. November 1974 hat die Beklagte die Änderung der Eintragung schließlich nochmals verfügt; bei diesem Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Mai 1975 handelt es sich mithin um einen belastenden sogenannten Zweitbescheid, der den Rechtsweg gegen die Änderung erneut eröffnete.

Zu Recht haben daher die Vorinstanzen die Klage als zulässig erachtet.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist sie auch nicht unbegründet; § 145 AVG findet auf einen Fall der vorliegenden Art sehr wohl Anwendung. § 145 Abs 2 AVG legt fest, daß unter bestimmten Voraussetzungen “die Richtigkeit der Eintragung… nicht mehr angefochtenen werden kann”. Der Schutz, den diese Vorschrift den in der Versicherungskarte gemachten Eintragungen verleiht, erstreckt sich offenkundig gerade auch auf den Fall, daß die Eintragung nach dem Beitragsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung unrichtig sein sollte. Die Beklagte kann die Anwendbarkeit der Schutzvorschrift daher nicht mit der Behauptung ausschließen, die von ihr geänderte Eintragung sei im Hinblick auf die in der 2. LAV vom 24. April 1942 getroffenen beitragsrechtlichen Bestimmungen materiell unrichtig. § 145 AVG ist vielmehr auf Fälle anzuwenden, in denen seine tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben sind, also auf Eintragungen in Versicherungskarten, die umgetauscht (§ 145 Abs 1) und aufgerechnet (Abs 2 aaO) worden sind (ebenso Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., § 1423 Anm I). Eine Einengung dieses Anwendungsbereichs, wie ihn die Beklagte vornehmen möchte, ist im übrigen im Hinblick darauf nicht geboten, daß der Rentenversicherungsträger über zehn Jahre hinweg berechtigt ist, die materielle Unrichtigkeit des Karteninhalts nach § 145 Abs 2 AVG mit dem hierfür gerade geschaffenen Mittel der Beanstandung anzufechten (vgl hierzu im einzelnen Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, AVG, § 145 Anm II).

Nach dem hiernach auch auf den vorliegenden Fall anwendbaren § 145 Abs 2 Satz 1 Nr 1 AVG kann nach Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte ua die Richtgkeit der Eintragung der Beschäftigungszeiten und der Arbeitsentgelte nicht mehr angefochten werden. Die von der Beklagten geänderte Versicherungskarte 2 des Klägers ist am 18. Dezember 1946 aufgerechnet worden; die Berichtigung der Beschäftigungszeit und des Entgelts durch die Beklagte erstmals am 14. August 1974 liegt mithin nach Ablauf dieser Zeitspanne mit der Folge, daß die ursprüngliche Eintragung unanfechtbar ist. Das bedeutet, daß die Beklagte nicht mehr, wie bis zum Ablauf dieser Frist, geltend machen kann, daß die Eintragung und materielles Beitragsrecht nicht übereinstimmten. Das aber hat die Beklagte mit den streitigen Verwaltungsakten unter Hinweis auf die 2. LAV gerade getan.

Der erkennende Senat hat in seinem Urteil (BSGE 37, 219, 222 = SozR 2200 § 1423 Nr 2) bereits entschieden, daß der Rentenversicherungsträger auch nach Ablauf von zehn Jahren nach der Aufrechnung noch berechtigt ist, in der Versicherungskarte bestimmte offensichtliche Unrichtigkeiten zu beseitigen. Der vorliegende Fall bietet Anlaß klarzustellen, daß zu dieser offensichtlichen Unrichtigkeit nicht das Auseinanderfallen von materiellem Recht und Karteneintrag gehören kann. Eine solche sachlich-rechtliche Unrichtigkeit der Versicherungskarte kann der Versicherungsträger, wie dargelegt, nur bis zum Ablauf der in § 145 Abs 2 AVG genannten Frist geltend machen. Die Berichtigung, die dem Rentenversicherungsträger nach Ablauf dieser Frist noch erlaubt ist, kann sich nur auf Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten beziehen, wie sie zB in § 138 Satz 1 SGG, § 118 Abs 1 der Verwaltungsgerichtsordnung, § 107 Abs 1 der Finanzgerichtsordnung, § 319 Abs 1 der Zivilprozeßordnung, § 129 der Abgabenordnung (AO) genannt sind (vgl dazu auch BSGE 15, 96; 24, 203; SozR Nr 36, 43, 48 und 81 zu § 77 SGG; BSG vom 18. August 1971 – 4 RJ 187/70). Hierbei ist zu beachten, daß den Schreib- und Rechenfehlern vergleichbare Versehen nur Erklärungsmängel sein können, die mit dem Erklärungswillen des Erklärenden erkennbar in Widerspruch stehen; kein Versehen in diesem Sinne ist ein Verstoß gegen das materielle oder gegen das Verfahrensrecht (vgl dazu BFHE 120, 145 und Hofmann, AO, § 129 Anm 4).

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte selbst nicht behauptet, daß der Arbeitgeber des Klägers seinerzeit erklärt hätte, was er gar nicht habe erklären wollen. Die Beklagte hält, wie erörtert, die Eintragung mit dem Beitragsrecht der 2. LAV nicht für vereinbar. Im übrigen liegt auf der Hand, daß aus einer Eintragung der vorliegend streitigen Art ein Erklärungsmangel nicht sichtbar werden kann; der Arbeitgeber mag in solchen Fällen die Eintragung ganz bewußt, wenn auch möglicherweise in Verkennung des am 24. April 1942 erlassenen neuen Beitragsrechts vorgenommen haben; er mag sich zB für berechtigt gehalten haben, nach dem 30. Juni 1942 Pflichtbeiträge für Zeiten vor dem 1. Juli 1942 bereits nach neuem Recht nachzuentrichten. Der Erklärungswille des Arbeitgebers und die Eintragung stimmten dann überein; von einem Eintragungsversehen läßt sich nicht sprechen.

Die von der Beklagten vorgenommene Änderung der Eintragungen in der Versicherungskarte Nr 2 des Klägers entbehrt damit der Rechtsgrundlage. Die Vorinstanzen haben die entsprechenden Verwaltungsakte zu Recht aufgehoben, so daß die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen war. Hierbei war klarzustellen, daß – wie die eingangs gemachten Ausführungen ergeben – vorliegend nur die Aufhebungs-, nicht aber die Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) zulässig war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 51

Breith. 1980, 340

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