Entscheidungsstichwort (Thema)

Originalkarte als Beweismittel für für Inhalt der Ersatzkarte

 

Leitsatz (amtlich)

Wird für eine verlorene (nicht auffindbare) Versicherungskarte als Ersatz eine Ersatzkarte und/oder eine Aufrechnungsbescheinigung ausgestellt, so verliert die ursprüngliche Karte ihre Eigenschaft als gültige Versicherungskarte und gewinnt diese auch mit ihrem Wiederauffinden nicht wieder; ein Beanstandungs(Bestands-)schutz, den die Ersatzkarte (Aufrechnungsbescheinigung) nach § 145 Abs 2 AVG (= § 1423 Abs 2 RVO) erlangt hat, kann durch die wiederaufgefundene Karte nicht beeinträchtigt werden.

 

Orientierungssatz

Der Verlust des Rechtscharakters der Originalkarte als gültige Versicherungskarte mit der Ausstellung der Ersatzkarte hindert den Versicherungsträger nicht, eine wiederaufgefundene Originalkarte als Beweismittel bei Überprüfungen der Richtigkeit des Inhalts der Ersatzkarte zu benutzen, solange die Ersatzkarte noch keinen Beanstandungsschutz nach § 145 Abs 2 AVG genießt.

 

Normenkette

AVG § 145 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1423 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 135 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1413 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.09.1982; Aktenzeichen L 1 An 22/82)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 30.11.1981; Aktenzeichen S 14 An 35/81)

 

Tatbestand

Der Klägerin sind am 11. März 1953 als Ersatz für die damals nicht auffindbare Versicherungskarte Nr 4 (Originalkarte -OK-) von der Ausgabestelle eine neue Versicherungskarte (Ersatzkarte -EK-) Nr 4 und eine inhaltsgleiche Aufrechnungsbescheinigung (AB) ausgestellt worden. Die Beklagte hat mehr als 10 Jahre später die am 19. August 1942 ausgestellte und am 25. Juni 1952 ohne AB aufgerechnete OK gefunden. Sie hat im Kontenklärungsverfahren anstelle wahrscheinlicher Fehleintragungen auf der OK die Eintragungen der EK berücksichtigt, es jedoch abgelehnt, auch für die streitige Zeit von Mai 1943 bis Oktober 1944 die höheren Entgelte der EK anstelle der niedrigeren der OK zu berücksichtigen (Bescheid vom 18. September 1980; Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1981).

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 30. November 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, zugunsten der Klägerin für die streitige Zeit von den in der EK bezifferten höheren Entgelten auszugehen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Eintragungen in der EK könnten von der Beklagten nicht mehr beanstandet werden (§ 145 Abs 2 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-). Dem stehe das Wiederauffinden der OK nicht entgegen. Da die OK nicht auffindbar gewesen sei und der Klägerin über die OK auch keine AB erteilt worden sei, sei aus ihrer Sicht der Kartenersatz notwendig gewesen. Von der Richtigkeit der Eintragungen auf der EK habe die Klägerin bei der Planung ihrer Altersversorgung ausgehen dürfen, zumal die Beklagte innerhalb der gesetzlichen 10-Jahresfrist von ihrem Beanstandungsrecht keinen Gebrauch gemacht habe. Anderenfalls könnte die Verwaltung ihre Fehler unbefristet zu Lasten des Vertrauensschutzes der Versicherten korrigieren.

Mit der Revision rügt die Beklagte, der an sich auch einer EK zukommende Schutz des § 145 Abs 2 AVG entfalle mit dem Auffinden der OK, da anderenfalls, soweit auch die OK nach vorgenannter Vorschrift geschützt sei, der Versicherungsträger die in beiden Karten für dieselben Zeiträume bescheinigten Entgelte nebeneinander anrechnen müßte.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. September 1982 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. November 1981 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision war zurückzuweisen.

Die angefochtene Verurteilung der Beklagten, zugunsten der Klägerin für bestimmte Zeiten von bestimmten versicherungspflichtigen Entgelten auszugehen, ist im Sinne eines Feststellungsurteils zu verstehen. Gegenstand einer Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann nicht nur die Beitragsentrichtung als solche sein, wie dies § 55 Abs 2 SGG klarstellt, sondern auch die Höhe des zugrunde liegenden ver- sicherungspflichtigen Entgelts (vgl BSG SozR 1500 § 55 Nr 19). Ein berechtigtes Interesse an alsbaldiger Feststellung ist im Hinblick auf den erteilten Versicherungsverlauf und die ablehnenden Bescheide gegeben.

Die Klage ist nach § 145 Abs 2 Satz 1 Nr 1 AVG begründet. Nach dieser Vorschrift kann nach Ablauf von 10 Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte die Richtigkeit der Eintragung der Beschäftigungszeiten, der Arbeitsentgelte und der Beiträge nicht mehr angefochten werden. Die streitige Feststellung hält sich in diesem Rahmen. Der Beanstandungsschutz bewirkt, daß der Versicherungsträger die eingetragenen Entgelte als zutreffend ansehen oder, wie es im Urteilstenor des LSG heißt, von ihnen ausgehen muß (vgl BSG SozR Nr 9 zu § 1423 RVO; SozR 2200 § 1423 Nr 1).

Die Voraussetzungen des § 145 Abs 2 AVG für den Beanstandungsschutz (= Bestandsschutz) liegen vor. Der Senat hat bereits im Urteil vom 13. März 1975 (SozR 2200 § 1423 Nr 4) entschieden, daß in § 145 Abs 2 AVG der Aufrechnung einer Versicherungskarte die ersatzweise Erteilung einer AB gleichzustellen ist. Das gilt unabhängig davon, ob die Ausgabestelle (§ 25 der Beitragsordnung vom 21. November 1924) oder der Versicherungsträger (§ 13 Abs 3 der Beitragsordnung) die AB ausgestellt hat (für den ersten Fall offen gelassen in BSGE 40, 288, 289). Auch bei Erteilung durch die Ausgabestelle erhielt der Versicherungsträger alsbald Kenntnis davon, weil ihm mit der nächsten Kartensendung die benutzten Beweismittel und eine Abschrift der AB zu übersenden waren (§ 27 Abs 3 der Beitragsordnung). Wie bei der Versicherungskarte 10 Jahre nach ihrer Aufrechnung besteht bei der ersatzweisen Erteilung der AB des § 27 Beitragsordnung ebenfalls 10 Jahre später das gleiche Bedürfnis nach dem Beanstandungsschutz des § 145 Abs 2 AVG. Das gleiche gilt, wenn im Zusammenhang mit der AB nochmals eine Versicherungskarte als EK ausgestellt und aufgerechnet worden ist, auch wenn dies nach den damals maßgebenden Bestimmungen der Beitragsordnung (§§ 25, 27) nicht erforderlich war. Da AB und EK inhaltsgleich sind, kann der Senat von der EK ausgehen und dabei offen lassen, ob sich in einem solchen Fall bei abweichenden Eintragungen der Schutz des § 145 Abs 2 AVG auf die AB oder die EK bezieht.

Entgegen der Meinung der Beklagten haben die ersatzweise ausgestellten EK und AB nicht mit dem Auffinden der OK ihre Wirkungen verloren. Die Ausstellung beruhte darauf, daß die Ausgabestelle bzw der Versicherungsträger "verlorene, unbrauchbare oder zerstörte Versicherungskarten ersetzt" (§ 25 Abs 1 der Beitragsordnung, jetzt § 135 Abs 1 AVG); die EK (AB) ist das Mittel für den Ersatz. Schon wegen dieser Ersatzfunktion muß sie hinsichtlich der in ihr bescheinigten Beitragszeiten in jeder Hinsicht an die Stelle der OK treten; die OK kann nicht daneben weiterhin mit gleichem Rechtswert gültige Versicherungskarte bleiben; diese Eigenschaft hat sie mit der Ausstellung der EK ein für allemal eingebüßt. Das ist bei ihrer Zerstörung selbstverständlich; es kann aber auch nicht anders sein, wenn eine verlorene OK wiedergefunden oder eine unbrauchbare (etwa mit neuer Technik) wieder brauchbar gemacht wird. Die versicherungsrechtlichen Vorschriften enthalten keine Anhaltspunkte dafür, daß die EK dann rechtlich gegenstandslos und die durch sie ersetzte OK wieder gültige Versicherungskarte werden würde.

Deshalb kann auch ein nach § 145 Abs 2 AVG erlangter Beanstandungsschutz der EK nicht durch das Wiederauffinden der OK berührt werden. Das gilt unabhängig davon, ob und wann nach der Aufrechnung der OK ebenfalls schon ein Zeitraum von 10 Jahren verstrichen war. Auch dann hat die OK mit der Ausstellung der EK alle Rechtswirkungen einschließlich der nach § 145 Abs 2 AVG verloren. Infolgedessen kann eine von der Beklagten befürchtete Doppelanrechnungspflicht nicht bestehen; nach der Ausstellung der EK kann es allenfalls einen Beanstandungsschutz der EK, nicht mehr aber - oder sogar gleichzeitig - einen Beanstandungsschutz der OK geben.

Der Verlust des Rechtscharakters der OK als gültige Versicherungskarte mit der Ausstellung der EK hindert den Versicherungsträger nicht, eine wiederaufgefundene OK als Beweismittel bei Überprüfungen der Richtigkeit des Inhalts der EK zu benutzen, solange die EK noch keinen Beanstandungsschutz nach § 145 Abs 2 AVG genießt. Hat sie diesen erlangt, kann der Inhalt der EK jedoch nicht mehr mit Hilfe der OK zum Nachteil des Versicherten geändert werden. Ob dies zu seinem Vorteil möglich wäre, bedarf im vorliegenden Rechtsstreit keiner Entscheidung (vgl SozR 2200 § 1423 Nr 2).

Da nach den Feststellungen des LSG die mit der OK nicht übereinstimmenden Entgelteintragungen in der EK von der Klägerin schließlich nicht in betrügerischer Absicht herbeigeführt worden sind (§ 145 Abs 2 Satz 2 AVG), mußten das Urteil des LSG somit bestätigt und die Revision der Beklagten mit den Kostenfolgen aus § 193 SGG zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

BSGE, 265

Breith. 1984, 221

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