Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 08.06.1990; Aktenzeichen L 5 J 68/89)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Juni 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die rentensteigernde Anrechnung einer Beitragszeit.

Die am 24. Dezember 1924 geborene Klägerin erhielt von der Beklagten antragsgemäß mit Bescheid vom 14. März 1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 1988 beginnend mit dem 1. Januar 1988 Altersruhegeld (ARG) nach § 1248 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 6. Juni 1988 Klage erhoben und – nach Vorlage des Vertriebenenausweises A – Ersatzzeiten geltend gemacht.

Mit Bescheid vom 5. Januar 1989 hat die Beklagte das ARG der Höhe nach neu festgestellt und dem Klagebegehren bzgl der geltend gemachten Ersatzzeiten voll entsprochen.

Im weiteren Klageverfahren hat die Klägerin u.a. die Anrechnung des Monats September 1947 als Beitragszeit zur Versicherungsanstalt Berlin (VAB) geltend gemacht.

Auf der für die Klägerin ausgestellten Versicherungskarte 1947 der VAB sind auf der Rückseite für sämtliche Monate des Jahres 1947 – mit Ausnahme des Monats September – Beitragsmarken im Gesamtwert von 421,– Reichsmark (RM) geklebt worden. Die Zeile für September 1947 enthält die Eintragung „ohne Entgelt – beurlaubt”. Dagegen enthält der Teil der Versicherungskarte, der die „Bescheinigung des Betriebes und Bestätigung des Versicherten” betrifft, in der Spalte „Beschäftigung im Jahre 1947” die Eintragung: „vom 1. Januar bis 31. Dezember”, in der Spalte „Markenwert (Gesamtbetrag)” die Eintragung: „421,– RM”, auf die dann in den jeweils vorgesehenen Spalten die Bescheinigung des Betriebes mit Stempel und Unterschrift und die Unterschrift des Versicherten folgen. Unmittelbar darunter befindet sich das Dienstsiegel der VAB mit Namenszug und Datumsangabe 7. April 1948. Damit korrespondiert die der Klägerin am 7. April 1948 erteilte Aufrechnungsbescheinigung, in der die nachgewiesenen Pflichtbeiträge vom 1. Januar 1947 bis 31. Dezember 1947 im Gesamtwert von 421,– RM bescheinigt worden sind, wobei sich auf der Rückseite der Aufrechnungsbescheinigung der Hinweis befindet, daß diese Aufrechnungsbescheinigung die Grundlage für die Rentenberechnung bildet und deshalb sorgfältig aufzubewahren und bei Stellung des Rentenantrages abzugeben ist.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 19. Juli 1989 unter Stattgabe der Klage im übrigen, die Klage in diesem Streitpunkt abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, das ARG der Klägerin unter rentensteigernder Berücksichtigung des Monats September 1947 als Beitragszeit vom Leistungsbeginn an festzustellen (Urteil vom 8. Juni 1990). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die rentensteigernde Anrechnung des Monats September 1947 folge aus § 1423 Abs 2 RVO. Die vom Arbeitgeber in der Versicherungskarte 1947 der VAB, die keine Aufrechnungsspalte enthalte, vorgenommenen Eintragungen in den Abschnitten „Bescheinigung des Betriebes” über die Beschäftigungsdauer und den Markenwert seien den Aufrechnungen in den „Aufrechnungsspalten” der Quittungskarten der Arbeiterrentenversicherung insoweit gleichzustellen, als sie den Beanstandungsschutz des § 1423 Abs 2 RVO genössen. Diese Gleichstellung habe zur Folge, daß – nach Ablauf der 10 Jahresfrist – hinsichtlich der Eintragungen des Betriebes in die Versicherungskarte 1947 Beanstandungsschutz eingetreten sei. Die Beiträge, die bescheinigt, aber nicht entrichtet worden seien, seien wie rechtswirksame Beiträge zu behandeln. Ein Fall offensichtlicher bzw offenbarer Unrichtigkeit liege nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene -Revision der Beklagten.

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 1423 Abs 2 RVO.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, den Monat September 1947 bei der Berechnung des Altersruhegeldes der Klägerin als Beitragszeit rentensteigernd anzurechnen.

Das LSG hat § 1423 Abs 2 Nr 2 RVO richtig angewandt. Nach dieser Vorschrift können nach Ablauf von 10 Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte die Rechtsgültigkeit der Verwendung der in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten Beitragsmarken nicht mehr angefochten werden. Dies gilt nicht, wenn der Versicherte oder sein Vertreter oder ein zur Fürsorge für ihn Verpflichteter die Eintragung in die Entgeltbescheinigung oder die Verwendung der Marken in betrügerischer Absicht herbeigeführt hat.

Waren Beiträge im Markenverfahren zu entrichten, ist der Inhalt der Aufrechnung, nicht der Inhalt der Versicherungskarte oder der Aufrechnungsbescheinigung geschützt. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des § 1423 Abs 2 Nr 2 RVO, denn dort wird ausdrücklich von den in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten Beitragsmarken gesprochen (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ in SozR 2200 § 1423 Nr 2 S 4). Der Schutz des § 1423 Abs 2 RVO erstreckt sich in den Fällen, in denen die Beitragsentrichtung im Markenverfahren erfolgt, auf die in der Aufrechnungsspalte bescheinigten Beitragsmarken (BSG aaO S 4). Er setzt voraus, daß die Versicherungskarte aufgerechnet (vgl BSG in SozR aaO Nr 5) und die Aufrechnungsbescheinigung dem Versicherten bekannt gegeben worden ist (vgl BSG in SozR aaO Nr 4). Die Schutzwirkung des § 1423 Abs 2 RVO gilt für alle Versicherungskarten, die aufgerechnet worden sind (vgl BSG in SozR aaO Nr 10). Die Unanfechtbarkeit der Eintragungen und die Bescheinigung in der Aufrechnungsspalte der Versicherungskarte bewirkt, daß selbst nicht entrichtete Beiträge als entrichtet gelten (vgl BSG in SozR aaO Nr 2).

Im Falle der Klägerin besteht die Besonderheit, daß es sich um eine Versicherungskarte handelt, die auf die VAB lautet und diese Versicherungskarte (1947) keine „Aufrechnungsspalte” enthält. In der Zeit vom 1. Juli 1945 bis zum 31. Dezember 1950 galt in Berlin die einheitliche Sozialversicherung. Versiche-rungsträger war die VAB (vgl Harthun-Kindl, Die Sozialversicherung in Berlin zwischen 1945 und heute, Die Sozialgerichtsbarkeit 1990, S 477). Sie war der einheitliche Versicherungsträger für die Kranken-, Renten- und Unfallversicherung. Vom 1. Januar 1947 an wurde die „Versicherungskarte 1947” und statt des Lohnabzugsverfahrens das Markenklebeverfahren eingeführt. Die Versicherungskarte 1947 enthielt auf der Rückseite die einzelnen Markenfelder, und auf der zweiten Hälfte der Vorderseite hatte der Betrieb die Beschäftigungsdauer und den Markenwert einzutragen „Bescheinigung des Betriebes”). Außerdem enthielt dieser Teil der Vorderseite eine Rubrik „Bestätigung des Versicherten” (hier sollte der Versicherte die Angaben des Betriebes bestätigen). Eine „Aufrechnungsspalte” war nicht vorgesehen. Das bedeutete jedoch nicht, daß keine Aufrechnung zu erfolgen hatte. Nach § 70 Abs 9 Sätze 1 und 2 der VAB-Satzung (in der vom 1. Januar 1947 an geltenden Fassung) galten die Versicherungskarten jeweils für ein Kalenderjahr. Im folgenden Kalenderjahr waren sie durch die Versicherten der Versicherungsanstalt zurückzugeben, die eine Bescheinigung über die entrichteten Beiträge (eingeklebten Marken) ausstellte.

Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die vom Arbeitgeber vorgenommenen Eintragungen in den Abschnitten „Bescheinigung des Betriebes” der Versicherungskarte 1947 über die Beschäftigungsdauer und den Beitragsmarkenwert den Aufrechnungen in den „Aufrechnungsspalten” der Quittungskarten der Arbeiterrentenversicherung insoweit gleichzustellen, als sie den Beanstandungsschutz des § 1423 Abs 2 RVO genießen. Die Eintragungen seitens des Betriebes über die Beschäftigungsdauer und den Markenwert (Gesamtbeitrag) sind zwar keine Beurkundungen wie die Aufrechnungen nach §§ 18, 26 Abs 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften über Versicherungskarten und Aufrechnungsbescheinigungen in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (VVA) in der Fassung vom 20. Februar 1968 (BAnz Nr 58 vom 28. März 1968 – Beilage –), die von der Ausgabestelle (§ 6 VVA) vorgenommen wurden. Sie sind aber verbindliche Erklärungen des Arbeitgebers über die Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung und die für diese Zeit verwendeten Beitragsmarken, dh den Beitragsmarkenwert und damit über die Höhe des versicherungspflichtigen Bruttoentgeltes. Sie dienten der Ausstellung der Aufrechnungsbescheinigung. Hinzu kommt, daß die Versicherungskarte 1947 im Falle der Klägerin unmittelbar unter der vom Arbeitgeber vorgenommenen Bescheinigung über Beschäftigungsdauer und Beitragsmarkenwert den Abdruck des Siegels der VAB enthält, mit Datumsangabe und Unterschriftsleistung. Entgegen der Auffassung der Beklagten belegen diese Eintragungen nicht nur, daß und wann eine Aufrechnungsbescheinigung ausgestellt wurde, sondern stellen sich für einen objektiven Dritten als eine Aufrechnung in der „Aufrechnungsspalte” der Quittungskarte der übrigen Arbeiterrentenversicherungsträger dar. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die Gleichstellung der in der Versicherungskarte 1947 enthaltenen Angaben des Arbeitgebers in der Rubrik „Bescheinigung des Betriebes” mit der Aufrechnung in der Aufrechnungsspalte einer Quittungskarte der Arbeiterrentenversicherung gerechtfertigt.

Das hat zur Folge, daß – nach Ablauf der 10-Jahresfrist -hinsichtlich der Eintragungen des Betriebes in die Versicherungskarte 1947 Beanstandungsschutz eingetreten ist. Die Schutzwirkung des § 1423 Abs 2 RVO hat zur Folge, daß Beiträge, die bescheinigt, tatsächlich aber nicht entrichtet wurden, wie rechtswirksame Beiträge zu behandeln sind. Sie gelten als entrichtet (vgl BSG in SozR aaO Nrn 2, 10). Wie das LSG zutreffend festgestellt hat, liegt auch ein Fall offensichtlicher/offenbarer Unrichtigkeit nicht vor, wenn in der Versicherungskarte niedrigere Beiträge oder weniger Beiträge enthalten sind, als in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigt sind (vgl BSG in SozR aaO Nr 2). Damit sind die in der Versicherungskarte bescheinigten Beiträge wie rechtswirksame Beiträge zu behandeln.

Die Bescheinigung des Arbeitgebers in der Versicherungskarte 1947 enthält für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1947 einen Beitragsmarkenwert in Höhe von 421,– RM. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, daß sich diese Beiträge auf 12 Monate erstrecken, denn daß versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis ist vom Arbeitgeber für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1947 bescheinigt worden. Der Markenwert von 421,– RM für 1947 ist daher auf das gesamte Jahr (gleich 12 Monate) zu verteilen.

Nach alledem war das Urteil des LSG zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174139

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