EuGH urteilt zur Massenentlassungsanzeige

Fehler in der Massenentlassungsanzeige führten bisher oft zur Unwirksamkeit der Kündigung. Ob die bisherige Rechtsprechung im Widerspruch zum EU-Massenentlassungsschutz steht, wollte das Bundesarbeitsgericht vom Europäischen Gerichtshof wissen. Dieser hat am 13. Juli 2023 dazu entschieden. Was das für die deutsche Rechtslage bedeutet, ist aber nach wie vor unklar.

Für Personalabbaumaßnahmen hat sich die Massenentlassungsanzeige bislang als Schreckgespenst erwiesen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte in den vergangenen Jahren die Anforderungen an die Erstattung der Massenentlassungsanzeige stetig erhöht. So sollten zum Beispiel auch Mitarbeitende in Elternzeit oder Schwerbehinderte, die nicht im 30-Tageszeitraum gekündigt wurden, sondern bei denen lediglich das Zustimmungsverfahren bei der zuständigen Behörde eingeleitet wurde, zu den zu entlassenden Arbeitnehmenden gezählt werden. Auch die Bestimmung der zuständigen Agentur für Arbeit führte regelmäßig ins Chaos beziehungsweise zur Unwirksamkeit großer Kündigungsmaßnahmen, wie der Fall Air Berlin gezeigt hat.

Aufgrund eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) hatte das BAG ein laufendes Verfahren ausgesetzt. Ist das Schreckgespenst Massenentlassungsanzeige künftig nur noch ein zahnloser Tiger? Der EuGH hat am 13. Juli 2023 dazu entschieden - was das für die deutsche Rechtslage bedeutet, ist aber nach wie vor unklar.

EuGH-Urteil: Teil II der Massenentlassungsrichtlinie vermittelt keinen Individualrechtsschutz 

In dem deutschen Vorlageverfahren beim EuGH (Az. C-134/22) hatte bereits der Generalanwalt mit seinen Schlussanträgen vom 30. März 2023 klargestellt, dass die Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen) aus seiner Sicht keinen Individualrechtsschutz verleiht und ein Verstoß dagegen nicht zur Nichtigkeit / Unwirksamkeit der Kündigung führt. Eine Nichtigkeit der Kündigung als Sanktion der Massenentlassungsrichtlinie sei schon mit Blick auf die historische Auslegung der Richtlinie abzulehnen. Die Kommission habe den Mitgliedsstaaten eine Nichtigkeitserklärung der Kündigung bei den Vorarbeiten zur Vorgängerrichtlinie explizit vorgeschlagen, ohne dass dies jedoch umgesetzt worden sei. Die Unwirksamkeit / Nichtigkeit der Kündigung sei als zwingende Sanktion der Richtlinie also gerade nicht gewollt, sondern den Mitgliedsstaaten selbst überlassen. Dem ist der EuGH in seiner Entscheidung vom 13. Juli 2023 gefolgt – wenn auch nicht ganz so pauschal, wie das vielleicht wünschenswert wäre.

In dem Vorlageverfahren ging es darum, ob die Nichtweiterleitung der Betriebsratskonsultation an die Agentur für Arbeit im Vorfeld der Massenentlassung bereits als Verstoß mit individualrechtlichem Schutz gilt. Dies lehnt der EuGH klar und in aller Deutlichkeit ab. Die Weiterleitung der Konsultation sei klar dem Abschnitt II der Richtlinie (Information und Konsultation) und nicht dem Abschnitt III (Massenentlassungsanzeige) zuzuordnen. Zu einem Zeitpunkt, in dem Kündigungen nur beabsichtigt sind, solle sich die Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmenden befassen, sondern die Massenentlassungen allgemein betrachten und die Beseitigung ihrer negativen Folgen vorbereiten. Dies insbesondere, da sich die Informationen im Laufe der Beteiligung der Arbeitnehmervertretung noch ändern könnten und sich die Behörde daher nicht auf die individuellen Informationen verlassen könnte.

Überdies sei der Behörde im Stadium der Konsultation nur eine passive Rolle als Empfänger einer Abschrift zugewiesen, während sie erst bei der Massenentlassungsanzeige eine aktive Rolle durch die Richtlinie zugewiesen bekomme. Darüber hinaus sei das Recht auf Information und Konsultation des Betriebsrats zugunsten der Arbeitnehmenden als Gemeinschaft ausgestaltet und daher kollektiver Natur. Ein Individualrechtsschutz werde daher in diesem Stadium nicht vermittelt.

Bedeutung für die künftige BAG-Rechtsprechung

So erfreulich klar der EuGH den vorliegenden Fall entschieden hat – also ohne deutlicheren Verweis auf die Möglichkeit einer strengeren nationalen Regelung –, so unklar ist die Richtung der Rechtsprechung für eben jene Fehler im Massenentlassungsverfahren, die dem Teil III der Richtlinie, also der Massenentlassungsanzeige, zuzuordnen sind.

Aktuelles Vorlageverfahren: Bei Nichtvorlage der Konsultation an die Agentur ist keine Unwirksamkeit der Kündigung zu erwarten

In dem Ausgangsverfahren (Az. 6 AZR 155/21), welches dem aktuell entschiedenen Vorlageverfahren (Az. C 134/22) zugrunde liegt, dürfte die Richtung nun klar sein. Hier ist zu vermuten, dass das BAG nun ebenfalls einen Individualrechtsschutz verneinen und die Unwirksamkeit der Kündigung wegen der Nichtweiterleitung der Konsultation ablehnen wird.

Ausgesetzes weiteres BAG-Verfahren: Was passiert bei einer fehlerhaft unterbliebenen Massenentlassungsanzeige?

Spannend wird, was das BAG in dem Rechtsstreit (Az. 6 AZR 157/22) tun wird, den es im Hinblick auf die Stellungnahme des Generalanwalts im Vorlageverfahren C 134/22 ausgesetzt hatte. In diesem Fall hatte der Insolvenzverwalter aufgrund seiner Einschätzung der in der Regel beschäftigten Mitarbeitenden vor Ausspruch der Kündigungen keine Massenentlassungsanzeige erstattet, weil er diese nicht für erforderlich hielt. Das Landesarbeitsgericht Hamburg hatte dies anders gesehen (Urteil vom 3. Februar 2022, Az: 3 Sa 16/21) und die Kündigung im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mangels Massenentlassungsanzeige für unwirksam gehalten.

Nach der bisherigen BAG-Rechtsprechung wäre bei einer fälschlicherweise unterbliebenen Massenentlassungsanzeige die Kündigung unwirksam. Nach Vorliegen der Einschätzung des Generalanwalts in der Rechtssache C-134/22 sah sich das Bundesarbeitsgericht jedoch zur Aussetzung des Rechtsstreits bis zur dortigen Entscheidung gezwungen. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem stehe möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie vermittelt wird, und könnte folglich unverhältnismäßig sein, so das Bundesarbeitsgericht in seiner Pressemeldung zum Beschluss vom 11. Mai 2023, Az: 6 AZR 157/22. Kurz zusammengefasst zweifelte das BAG also daran, ob sich die bisherige Auslegung des § 17 KSchG – also die Unwirksamkeit der Kündigung als Folge von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige – aufrechterhalten lässt, sofern die europäische Richtlinie keinen individualrechtlichen Schutz gewährt und eine europarechtskonforme Auslegung in diesem Sinne also auch nicht möglich ist.

Die Pressemeldung des BAG in seinem Aussetzungsbeschluss klang zunächst nach einer vollumfänglichen Kehrtwende in der Rechtsprechung. Öffentlich zweifelte das BAG an seiner bisherigen Linie, wonach Fehler im Massenentlassungsverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigung führen – ohne jedoch diese Zweifel auf bestimmte Fehler oder bestimmte Verfahrensabschnitte zu beschränken. Nun basierten die Zweifel des BAG aber im Wesentlichen auf der recht pauschalen Stellungnahme des Generalanwalts im Vorlageverfahren C 134/22. Daraus ließ sich relativ deutlich ableiten: Die Richtlinie vermittelt keinen Individualrechtsschutz.

Die Entscheidung des EuGH ist nun leider nicht ganz so pauschal ausgefallen. Der EuGH zieht in der Begründung, warum im konkreten Fall kein Individualrechtsschutz in der Richtlinie vermittelt wird, auffällig häufig den betroffenen Verfahrensabschnitt (Konsultation und Information) heran, in dem der Fehler entstanden ist. In diesem Verfahrensabschnitt werde der Schutz kollektiv durch die Arbeitnehmervertretung ausgeübt, die Entlassungen seien nur geplant und die Behörde solle sich daher in diesem Stadium nicht mit der Situation des einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern nur Maßnahmen in Bezug auf die kommende Massenentlassungsanzeige vorbereiten. Eine Aussage dazu, ob die Richtlinie in einem andern Verfahrensstadium - sprich nach der Konsultations- und Informationsphase (also bei der Anzeige selbst) - einen Individualrechtsschutz vermittelt, macht der EuGH nicht.

Vollzug der Kehrtwende oder erneute Vorlage?

Dem BAG bleiben nun mehrere Möglichkeiten. Es kann einerseits seine bereits im Aussetzungsbeschluss eingeleitete Kehrtwende vollumfänglich fortführen und aus dem EuGH-Urteil ableiten, dass die Massenentlassungsrichtlinie keinen Individualrechtsschutz vermittelt. Punkt. Dies wäre angesichts der deutlich geäußerten Zweifel an der bisherigen Linie der deutschen Rechtsprechung konsequent und wohl auch von der bisherigen Linie des EuGH in früheren Entscheidungen gedeckt. Für diese Lösung "Wenn schon Asche aufs Haupt, dann auch Augen zu und durch" spricht also einiges.

Andererseits könnte das BAG das aktuelle EuGH-Urteil und die auffällige Anknüpfung des EuGHs an das Verfahrensstadium, in dem der Fehler begangen wurde, auch dazu nutzen, nochmal genauer nachzufragen. Sinngemäß würde die Frage in einer erneuten EuGH-Vorlage dann wohl lauten: "Und was ist nun mit dem Individualrechtsschutz der Richtlinie, wenn der Fehler im Anzeigeverfahren begangen oder die Anzeige gleich ganz unterlassen wurde? (Hättet ihr auch gleich mitbeantworten können, habt ihr aber nicht - also fragen wir halt nochmal nach)". Auch diese Lösung wäre angesichts der EuGH-Entscheidung durchaus plausibel – wirft das aktuelle EuGH-Urteil doch mindestens so viele Fragen auf, wie es beantwortet.

Unklare Rechtslage erfordert weiterhin Sorgfalt bei der Erstellung der Massenentlassungsanzeige

Erleichterung ist also verfrüht. Arbeitgebern ist weiterhin eine sorgfältige Erstellung der Massenentlassungsanzeige zu empfehlen. Gewissheit darüber, ob die Massenentlassungsanzeige künftig Schreckgespenst oder zahnloser Tiger ist, dürfte erst die finale Entscheidung des BAG im Verfahren 6 AZR 157/22 bringen.


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