Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung der Versicherungsnummer. Änderung des Geburtsdatum. Altersruhegeld

 

Leitsatz (amtlich)

Das Geburtsdatum des Versicherten ist anspruchsbegründende Tatsache für die Gewährung von Altersruhegeld und als solche unter Ausschöpfung der erreichbaren und tauglichen Beweismittel von Amts wegen festzustellen.

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 2; SGB I § 20 ff.; SGG § 117 ff.

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Beschluss vom 15.10.1993; Aktenzeichen L 2 J 1035/92)

SG Kassel (Urteil vom 14.08.1992; Aktenzeichen S 8 J 196/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und einer Arbeitslosigkeit von mindestens 52 Wochen in den letzten eineinhalb Jahren an den Kläger. Streitig ist insbesondere das maßgebliche Geburtsdatum des Klägers.

Der Kläger ist türkischer Nationalität. Er arbeitete zwischen 1969 und 1988 versicherungspflichtig in der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Erteilung der Versicherungsnummer in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde als Geburtsdatum der 10. Januar 1935 zugrunde gelegt. Seinen unter der Vorlage einer Entscheidung des Amtsgerichts E…. /Türkei, wonach sein Geburtsdatum auf den 10. Januar 1930 geändert worden war, gestellten Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 1991 ab, weil der Kläger das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 14. August 1992; Beschluß des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 15. Oktober 1993). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Nach den Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. und 14. Oktober 1992 – 5 RJ 16/92 und 5 RJ 24/92 – habe ein Versicherter grundsätzlich keinen Anspruch darauf, daß der Versicherungsträger ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der Versicherungsnummer berücksichtigte verwende. Denn richtiges Geburtsdatum sei stets und auf Dauer das von dem Versicherungsträger bei Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte Geburtsdatum, wenn dieses den im damaligen Zeitpunkt vom Versicherten gemachten Angaben entspreche und mit den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden übereinstimme. Die spätere Änderung des Geburtsdatums sei daher nicht zu berücksichtigen; somit entfalle die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung. Diese Grundsätze seien auch auf den sogenannten “Leistungsfall” zu beziehen.

Der Kläger hat die vom BSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1248 Abs 2 RVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Er ist der Ansicht: Der Versicherungsträger sei bei Geltendmachung von Leistungsansprüchen verpflichtet, das richtige Geburtsdatum für den Leistungsfall festzustellen. Das in der Versicherungsnummer enthaltene Geburtsdatum des Versicherten könne nicht präjudiziell für die Festlegung des Leistungsfalls sein; so habe das BSG im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44) auch entschieden, daß der Versicherungsträger stets verpflichtet sei, im Leistungsfall das richtige Geburtsdatum aufgrund freier Beweiswürdigung festzustellen. Im Rahmen dieser Beweiswürdigung komme dem durch ausländische Gerichte festgesetzten Geburtsdatum zumindest Indizfunktion (“prima facie” – Beweis) zu. Dieses geänderte Geburtsdatum werde auch von deutschen Behörden, zB der Ausländerbehörde, dem Arbeitsamt und der Krankenkasse, als verbindlich anerkannt.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1993, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 14. August 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Zugrundelegung des Geburtsdatums vom 10. Januar 1930 ab 1. Februar 1990 Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2 RVO zu gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die Rügen des Klägers für unbegründet. Den vom Kläger angebotenen Zeugenbeweis sieht sie für prinzipiell nicht geeignet an, das Geburtsdatum eines Versicherten zu beweisen, weil es sich allenfalls um einen Beweis vom “Hörensagen” handelte. Im weiteren führt sie aus: Zeugen, die behaupteten, im gleichen Jahr wie der Kläger geboren zu sein, könnten diese Tatsache nicht aus eigener Kenntnis bekunden. Das Geburtsdatum der Zeugen sei ebensowenig zu beweisen, wie das des Klägers. Wenn Eintragungen in türkische Geburtsregister falsch sein könnten, könnten dies auch die Eintragungen hinsichtlich der Zeugen sein.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Das Berufungsgericht wird zum Alter des Klägers und zu den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des vorgezogenen Altersruhegeldes wegen Arbeitslosigkeit noch weitere Ermittlungen anzustellen haben.

Nach § 1248 Abs 2 RVO erhält Altersruhegeld auf Antrag der Versicherte, der – neben weiteren Voraussetzungen – das 60. Lebensjahr vollendet hat. Feststellungen zum Alter des Klägers hat das Berufungsgericht noch nicht getroffen. Es hat das Geburtsdatum des Klägers vielmehr der bisher für ihn vergebenen Versicherungsnummer entnommen und ausgeführt, ein Versicherter habe grundsätzlich kein Recht darauf, daß der Versicherungsträger ein anderes Geburtsdatum als das bei der Bildung der Versicherungsnummer berücksichtigte verwende. Bei der Gewährung von Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 2 RVO sind die anspruchsbegründenden Tatsachen im Leistungsfall jedoch von Amts wegen unter Ausschöpfung aller erreichbaren und tauglichen Beweismittel nach den auch sonst im sozialrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren geltenden Regeln festzustellen (dazu unten noch näher). Insoweit stellt § 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage keine Ausnahme vom Modell leistungsrechtfertigender Normen iS des § 2 Abs 1 Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) dar, für die es selbstverständlich ist, daß zur ordnungsgemäßen Leistungsabwicklung der den jeweiligen Tatbestandsmerkmalen entsprechende Sachverhalt im Einzelfall nach §§ 20 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) und §§ 117 ff SGG konkret und vollständig zu ermitteln und festzuschreiben ist.

Eine Besonderheit gegenüber den allgemein gültigen Grundsätzen besteht hierbei auch nicht in der Frage, ob und in welchem Umfang es eine Bindung an zuvor schon in anderem rechtlichen Zusammenhang und auf andere rechtliche Verfahrensweise vorgenommene Notierungen von Daten gibt. Greifen nicht derartige generelle Gesichtspunkte prozeß- oder auch sozialversicherungsrechtlicher Art (zB Beweissicherung nach § 76 SGG, Tatbestandswirkung, Vormerkung von Versicherungszeiten) mit bestätigender – dh Zweifel erschwerender oder sogar ausschließender – Wirkung ein, bleibt es für eine anspruchsbegründende Tatsache beim Grundsatz der aktuell auf den Leistungsfall bezogenen vollen Ermittlung und Beweisführung. Der Tatsache des Geburtsdatums eines Versicherten ist durch die Verwendung als Bestandteil der Versicherungsnummer in dieser Hinsicht keine Sonderstellung eingeräumt.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts gibt es weder eine materiell-rechtliche Bestimmung noch einen sonstigen Rechtssatz, wonach für den Versicherungsfall maßgebendes Geburtsdatum stets und auf Dauer das vom Versicherungsträger bei der Vergabe der Versicherungsnummer zugrunde gelegte Geburtsdatum ist, wenn dieses den im damaligen Zeitpunkt von dem Versicherten gemachten Angaben entspricht und mit den von ihm damals vorgelegten ausländischen Urkunden übereinstimmt. Die insoweit vom LSG zitierten Urteile des erkennenden Senats vom 13. und 14. Oktober 1992 (5 RJ 16/92 und 24/92 – BSGE 71, 170 = SozR 3-5748 § 1 Nr 1 und SozVers 1993, 278) betreffen allein den Anspruch eines Versicherten auf Berichtigung seiner bisherigen Versicherungsnummer (Vergabe einer neuen Versicherungsnummer) bei geändertem Geburtsdatum. In diesen Entscheidungen hat der Senat auf die Ordnungsfunktion der Versicherungsnummer abgestellt, die lediglich dazu dient, die personenbezogene Zuordnung der Daten für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) zu ermöglichen, § 147 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Hierzu hat er ausgeführt, mit der auf die Ordnungsfunktion beschränkten Aufgabe der Versicherungsnummer sei nicht zu vereinbaren, daß der Versicherungsträger nach ordnungsgemäßer Bildung der Versicherungsnummer gezwungen werden solle, späterem Vorbringen des Versicherten über die Unrichtigkeit der seinerzeit von ihm selbst gemachten Angaben nachzugehen, um in aller Regel nur feststellen zu können, daß ein anderes Geburtsdatum allenfalls möglich, das genaue Geburtsdatum aber ohnehin nicht feststellbar sei.

Damit hat der Senat zwar erkannt, daß sich ein “richtiges” Geburtsdatum für die Bildung einer neuen Versicherungsnummer nach Tag, Monat und Jahr Jahrzehnte nach der Geburt selbst im Inland in aller Regel nachträglich nicht bestimmen läßt, es sei denn anhand der Eintragungen im Geburtenbuch oder anderer geburtsnah erstellter Urkunden. Er hat aber auch ausgeführt, daß eine Entscheidung des Versicherungsträgers, nunmehr bei Bildung der Versicherungsnummer ein anderes Geburtsdatum zu verwenden, nicht vorgreiflich für eine spätere Entscheidung im Leistungsfall oder bindend für andere Behörden sein kann, eine Divergenz zwischen dem zur Bildung der Versicherungsnummer angenommenen Geburtsdatum und dem Geburtsdatum, das den altersabhängigen Leistungsfall begründet, mithin grundsätzlich nicht auszuschließen ist. Inwieweit der Versicherungsträger auch im Leistungsfall von dem bei Eintritt in die Versicherung angegebenen Geburtsdatum ausgehen darf, hat der Senat ausdrücklich offengelassen.

Wegen der unterschiedlichen Bedeutung des Geburtsdatums bei Bildung der Versicherungsnummer (Ordnungsfunktion oder auch “Identifizierungsmerkmal”, vgl Senatsurteil vom 12. April 1995 – 5 RJ 48/94) und im Leistungsfall (Anspruchsbegründung) mußte der Senat deshalb bisher auch nicht entscheiden, ob er sich der Ansicht des 4. Senats im Urteil vom 29. November 1985 (4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44) anschließt, wonach der Versicherungsträger stets verpflichtet ist, im Leistungsfall das richtige Geburtsdatum festzustellen, auch wenn der Versicherte vorher bei der Bildung der Versicherungsnummer ein anderes – für den Leistungsfall ungünstigeres – Geburtsdatum angegeben hat. Der erkennende Senat tritt nunmehr der Auffassung des 4. Senats bei.

Dem geltenden Recht läßt sich keine Grundlage dafür entnehmen, daß die innerstaatlichen Sozialleistungsträger das Recht haben, bei der Beurteilung des Leistungsfalles ohne Prüfung die frühere oder auch spätere Eintragung in den ausländischen Personenstandsunterlagen zugrunde zu legen. Ergeben sich Zweifel, sind sie stets im Wege gesonderter Tatsachenfeststellung auszuräumen. Die bereits dargelegte Normstruktur des § 1248 Abs 2 RVO als Anspruchsgrundlage läßt keine andere Vorgehensweise zu.

Für die verbindliche Feststellung von Personenstandsdaten ist weder im materiellen Sozialrecht noch im Sozialverfahrensrecht eine die Besonderheit der Problematik betreffende Regelung getroffen worden. Während bei einer Geburt in Deutschland das Geburtenbuch als Personenstandsbuch den Tag der Geburt beweist (§ 1 Abs 2, § 2 Abs 2, §§ 16 ff, 60 Abs 1 Satz 1 des Personenstandsgesetzes ≪PStG≫ idF der Bekanntmachung vom 8. August 1957 ≪BGBl I S 1125≫) und Personenstandsurkunden, zu denen der Geburtsschein und die Geburtsurkunde gehören (§§ 61a, 61c, 62 PStG), dieselbe Beweiskraft haben wie Personenstandsbücher (§ 66 PStG), kann ein gleichwertiger Beweis gestützt bloß auf Eintragungen in ausländischen Personenstandsbüchern nicht geführt werden. Denn die Personenstandsbuchführung ist vom Territorialitätsprinzip beherrscht. Die deutschen Personenstandsbücher beurkunden also nur innerstaatliche Personenstandsfälle (vgl im einzelnen BSG Urteil vom 29. November 1985 – 4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44). Demgemäß gilt die Beweisregel der § 60 Abs 1 Satz 1, § 66 PStG nicht für eine ausländische Geburtsurkunde. Diese kann zwar (“geeignetes”) Beweismittel sein; ihr Inhalt unterliegt im Gerichtsverfahren aber – nicht anders als ihre Echtheit (§ 438 der Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) – freier richterlicher Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 SGG.

Eine erhöhte Beweiskraft erlangen ausländische Personenstandsunterlagen auch nicht über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens über die Erteilung gewisser für das Ausland bestimmter Auszüge aus Personenstandsbüchern vom 27. September 1956 (BGBl II 1961, 1055; für die Bundesrepublik in Kraft ab 23. Dezember 1961 – BGBl II 1962, 42) oder über Art 2 Abs 1 des Übereinkommens betreffend die Entscheidungen über die Berichtigung von Eintragungen in Personenstandsbüchern (Zivilstandsregister) vom 10. September 1964 (BGBl II 1969, 445 und 446, in Kraft ab 25. Juli 1969 – BGBl II 1969, 2054). Denn entsprechende Unterlagen erhalten hierdurch nur die Beweiskraft einer ausländischen, nicht einer deutschen öffentlichen Urkunde. Eine die Geburt des Klägers betreffende Eintragung wird aus einem türkischen Personenstandsregister nicht in ein deutsches Personenstandsbuch übernommen (vgl hierzu im einzelnen: BSG Urteil vom 29. November 1985 – 4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44).

Das Urteil des türkischen Amtsgerichts E… vom 28. August 1987 bindet die deutschen Sozialleistungsträger und Gerichte nicht. Dieses Urteil ordnet eine Berichtigung des in V… /E … geführten türkischen Personenstandsregisters an; es kann keine weitergehenden Wirkungen haben, als die aufgrund dieses Urteils berichtigte Eintragung im türkischen Personenstandsregister selbst (BSG Urteil vom 29. November 1985 – 4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44; Urteil vom 29. Januar 1985 – 10 RKg 20/83 – SozR 5870 § 2 Nr 40).

Unterliegt bei fehlender Bindung einer – berichtigten – Eintragung in ein türkisches Personenstandsbuch die Feststellung des Tags der Geburt des Klägers mithin der freien Beweiswürdigung des deutschen Gerichts, so kann die Auffassung des LSG nicht zutreffen, es sei – wenn auch nicht an die berichtigte zweite, so doch – an die erste Feststellung des Geburtsdatums bei Vergabe der Versicherungsnummer gebunden. Die erste wie die berichtigte Eintragung in türkische Personenstandsunterlagen sind in bezug auf ihre Beweiskraft, die sie in der Bundesrepublik Deutschland entfalten, darin gleich zu beurteilen, daß sie beide die deutschen Sozialleistungsträger und Gerichte nicht binden.

Danach mußte das angefochtene Urteil auf die Revision des Klägers aufgehoben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden zu prüfen, ob der Vortrag des Klägers den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beweisführung genügt, um gegebenenfalls sodann den Geburtstag des Klägers – und daran anschließend die Vollendung des 60. Lebensjahres – aufgrund einer Beweiserhebung, die den allgemein dafür geltenden Regeln folgt, in freier Beweiswürdigung festzustellen.

Dabei wird es im Rahmen der Untersuchungsmaxime (§ 103 SGG) lediglich solche Ermittlungen anzustellen haben, die nach “Lage der Sache” erforderlich sind (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, RdNr 7 zu § 103), dh, es hat nur, aber auch stets zu ermitteln, soweit Sachverhalt und Beteiligtenvortrag Nachforschungen nahelegen (BSG Beschluß vom 14. September 1955 – 10 RV 490/55 – SozR Nr 3 zu § 103). Seine Ermittlungspflicht wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beschränkt (Meyer-Ladewig, aaO). Gerade in Fällen wie dem vorliegenden hängen die Ermittlungsmöglichkeit und -notwendigkeit maßgeblich von der Benennung des Beweismittels durch den Kläger – mithin seiner Mitwirkung – ab.

Beim – hier angebotenen – Zeugenbeweis wird der Beweis gemäß § 118 Abs 1 SGG iVm § 373 ZPO durch die Benennung der Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen angetreten, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll. Dazu wird sich das LSG Gedanken machen müssen zur Substantiierung der Beweisbehauptung, denn die Ablehnung des Beweises für beweiserhebliche Tatsachen ist zulässig, wenn die Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, daß ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann oder wenn die Bezeichnung der Tatsachen zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, gleichwohl aber nur aufs Geradewohl gemacht sind. Bei solchen gleichsam “ins Blaue” aufgestellten Behauptungen ist ein Beweisantrag rechtsmißbräuchlich (Bundesgerichtshof ≪BGH≫, Urteil vom 15. Dezember 1994 – 7 ZR 140/93 – NJW-RR 1995, 722 ff).

Die Behauptung einer bloß vermuteten Tatsache im Prozeß ist nur dann unzulässig, wenn der Beteiligte sie ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufstellt; bei der Annahme von Willkür in dem Sinne ist Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 25. April 1995 – VI ZR 178/94 – MDR 1995, 738). Wird nämlich eine Behauptung nach schlüssigem Vorbringen des Klägers unter Beweis gestellt, so hat das Gericht diesen Beweis dem Gebot der Erschöpfung der Beweismittel folgend (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫, § 118 Abs 1 SGG, § 286 ZPO) zu erheben (Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ Beschluß vom 28. Februar 1992 – 2 BvR 1179/91 – NJW 1993, 254, 255; Beschluß vom 20. April 1982 – 1 BvR 1429/81 – BVerfGE 60, 250, 252; Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Urteil vom 11. Dezember 1981 – 4 C 71/79 – NVwZ 1982, 244).

Entschließt sich das LSG hiernach zur Erhebung des angebotenen Beweises – gegebenenfalls durch Vernehmung der aufgebotenen Zeugen im Wege der Rechtshilfe in der Türkei –, so hat es das Ergebnis der Beweisaufnahme iS des § 128 Abs 1 SGG frei zu würdigen. Dabei verstößt es gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung, wenn das Gericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen allein deshalb verneint, weil der Zeuge einem Prozeßbeteiligten nahe steht und bei seiner Vernehmung keine Umstände zu Tage getreten sind, die die von vornherein angenommenen Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen zerstreut hätten (BGH, Urteil vom 18. Januar 1995 – VIII ZR 23/94 – MDR 1995, 629). § 286 Abs 1 ZPO, der über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet (§ 128 Abs 1 SGG spricht – pauschaler – nur vom “Gesamtergebnis des Verfahrens”), gebietet vielmehr, eine individuelle Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme vorzunehmen. Auch die Annahme möglichen Eigeninteresses eines aufgebotenen Zeugen führt nicht per se zur Verneinung der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen. Eine solche Annahme begründete eine – verfahrensrechtlich unzulässige – abstrakte Beweisregel, die das Gesetz nicht kennt (BGH Urteil vom 3. November 1987 – VI ZR 95/87 – MDR 1988, 307 zur sogenannten Beifahrer-Rechtsprechung). Es gibt aber keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß Zeugen, die einem Prozeßbeteiligten nahe stehen, von vornherein als parteiisch und unzuverlässig zu gelten haben und ihre Aussagen deswegen grundsätzlich unbrauchbar sind (BGH Urteil vom 18. Januar 1995 – VIII ZR 23/94 – MDR 1995, 629). Eine entsprechende Einschränkung der freien Beweiswürdigung ist verfahrenswidrig (vgl hierzu Baumgärtel, Zwei wichtige BGH-Entscheidungen zu Ausforschungsbeweis und “Behauptung ins Blaue hinein”, MDR 1995, 987).

Bei seiner Beweiswürdigung wird das LSG berücksichtigen können, daß der Kläger die Tatsache seiner früheren Geburt schon längere Zeit gewußt, der Beklagten gegenüber aber nicht kund getan hat. Gemäß § 444 ZPO können nämlich im Falle der Vereitelung des Urkundenbeweises Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden. Dieser Vorschrift wohnt der allgemeine Rechtsgedanke inne, daß für den Fall, daß eine Partei eine Beweisführung (teilweise) unmöglich macht, die Behauptung des Prozeßgegners zu der beweiserheblichen Problematik als bewiesen angesehen werden kann (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO-Komm, 53. Aufl 1995, RdNrn 1 und 2 zu § 444). Eine arglistige oder auch nur fahrlässige Vereitelung einer Beweisführung durch ein Tun oder pflichtwidriges Unterlassen (vgl BSG Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 10/92 – NJW 1994, 1303) kann im Rahmen freier Beweiswürdigung für die Richtigkeit des gegnerischen Vorbringens gewürdigt werden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, aaO, RdNr 2). Unabdingbare Voraussetzung für eine solche Beweiswürdigung wird aber sein, daß das pflichtwidrige Handeln oder Unterlassen den Beteiligten, der den (vereitelten) Beweis zu führen hätte, in Beweisnot, dh in eine ausweglose Lage, gebracht hat.

Das LSG kann ferner berücksichtigen, daß der Kläger – gestützt durch Erzählungen seiner Eltern oder weiterer Verwandter bzw durch bestimmte Ereignisse wie die Einschulung – möglicherweise selbst über lange Jahre davon überzeugt gewesen ist, iS des bisher angenommenen Geburtsdatums später geboren zu sein. Dies kann unter Umständen zur Prüfung Anlaß geben, ob in der nachträglichen Behauptung eines früheren Geburtsdatums ein “venire contra factum proprium” liegt, etwa wenn der Kläger vorher selbst das “alte” Geburtsdatum stets als das richtige im Geschäftsverkehr verwendet und darauf gestützt rechtliche Vorteile genutzt hat. Denn das Verbot widersprüchlichen Verhaltens gilt als Sonderfall des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auch im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere des Sozialversicherungsrechts, und kommt in diesem Sinne sowohl für das Handeln des Versicherungsträgers als auch für das Verhalten des Versicherten in Betracht (BSG Urteil vom 21. Juli 1981 – 7 RAr 37/80 – nicht veröffentlicht). Die Erkenntnis widersprüchlichen Verhaltens wiederum kann bei der Beweiswürdigung die Überzeugung rechtfertigen, daß das “neue” Geburtsdatum nur zweckgerichtet – zur früheren Erlangung einer Sozialleistung – behauptet und die Berichtigung der Personenstandsdaten in der Türkei nur deswegen veranlaßt worden ist. Diese Überzeugung könnte – allerdings unter Abwägung aller Umstände – vorliegend dadurch gestützt werden, daß der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren angegeben hat (Schriftsatz vom 12. März 1992). Unterlagen über einen Schulbesuch oder Zeugnisse könnten nicht beigebracht werden, weil er keine Schule besucht habe, während er zur Begründung seiner Revision (Schriftsatz vom 6. Juni 1994) ausführt, der Zeuge A… hätte Fragen zum gleichzeitigen Schulbesuch beantworten können.

Bei der Beweiswürdigung kann ferner Berücksichtigung finden, daß eine auffallend hohe Zahl nachträglicher Berichtigungen ausländischer Geburtseinträge in Fällen, in denen dies Leistungsbewerbern in der Bundesrepublik günstig erscheinen kann, vorliegt (BSG Urteil vom 29. November 1985 – 4a RJ 9/85 – SozR 2200 § 1248 Nr 44). Wie der 4. Senat in seinem Beschluß vom 22. Februar 1995 – 4 S (A) 5/94 – klarstellt, wird hierdurch allerdings keine abstrakte Beweisregel begründet, die das Gesetz nicht kennt. Vielmehr handelt es sich allein um die Berücksichtigung von Erfahrungssätzen, die das Tatsachengericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung zu gewichten hat.

Soweit der 10. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. Januar 1985 – 10 RKg 20/83 – (SozR 5870 § 2 Nr 40) ausführt, die aufgrund eines Urteils berichtigte Eintragung in türkischen Personenstandsregistern habe die Vermutung der Richtigkeit für sich, ist eine gesetzlich begründete Vermutung nicht gemeint, da eine solche im Gesetz nicht ausgesprochen ist. Zu prüfen ist allerdings, ob einer solchen Berichtigung ein hoher Beweiswert zukommt, was eine “tatsächliche Vermutung” darstellen kann. Diese Prüfung geschieht im Rahmen der freien Beweiswürdigung des Tatsachengerichts.

Bleibt im Ergebnis der Beweiswürdigung ein non liquet, so gibt die materielle Beweislast den Ausschlag für die Entscheidung. Sie besagt, daß ein nicht festgestelltes Tatbestandsmerkmal so zu behandeln ist, als sei es nicht vorhanden (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, RdNr 19 zu § 103). Zu tragen ist der Nachteil der Unerwiesenheit von dem, zu dessen Gunsten das Tatbestandsmerkmal im Prozeß wirkt (Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 6 zu § 118). Das bedeutet, daß es dann zu keiner Änderung des Geburtsdatums für die Zwecke der Rentenversicherung kommt, wenn nicht festgestellt werden kann, daß der Versicherte zu dem nunmehr von ihm behaupteten Zeitpunkt geboren ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 946331

BSGE, 140

IPRspr. 1995, 197

SozSi 1997, 74

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