Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensleistung nach dem Hamburger Ruhegeldgesetz

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach § 5 Abs 3 des Hamburger Ruhegeldgesetzes (RGG) "kann in Ausnahmefällen" vor Eintritt des Versorgungsfalles Ruhegeld gewährt werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die in § 5 Abs 3 RGG beschriebene Fallgestaltung führt lediglich zu einer auf Ausnahmefälle beschränkten Ermessensleistung.

2. Ein Ausnahmefall setzt besondere Umstände voraus. Die Unterschiede zum gesetzlichen Regelfall müssen so erheblich sein, daß es gerechtfertigt ist, vom Grundsatz abzuweichen.

3. Bei der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs 3 RGG handelt es sich um eine einseitige Leistungsbestimmung des Arbeitgebers, die nach § 315 Abs 3 BGB einer gerichtlichen Billigkeitskontrolle unterliegt. Der Arbeitgeber hat neben dem Lebensalter des Arbeitnehmers vor allem arbeitsvertragsbezogene Umstände wie etwa lange Betriebszugehörigkeit oder besondere Belastungen durch die geleistete Arbeit zu berücksichtigen. Da das Ruhegeld auch Entgeltcharakter hat, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitgeber es als einen wesentlichen Umstand ansieht, daß eine Arbeitnehmerin während ihres acht Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses insgesamt nicht einmal zwei Jahre lang gearbeitet hat.

 

Normenkette

BGB § 315; BetrAVG § 1; RuheGG HA § 5; ZPO § 561 Abs. 1; RuheGG HA § 2 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Entscheidung vom 26.10.1993; Aktenzeichen 3 Sa 57/93)

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 13.10.1992; Aktenzeichen 4 Ca 205/92)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin nach § 5 Abs. 3 des Hamburger Ruhegeldgesetzes (RGG) ein Ruhegeldanspruch zusteht.

Die am 1. August 1937 geborene Klägerin war vom 16. Juli 1979 bis zum 30. September 1987 bei der Beklagten als Pflegehelferin beschäftigt. Tatsächlich gearbeitet hat sie bis einschließlich 6. Mai 1981. Anschließend war sie arbeitsunfähig krank. Der personalärztliche Dienst überprüfte auf Veranlassung der Beklagten die Leistungsfähigkeit der Klägerin und gelangte in seinem Gutachten vom 3. November 1986 zu dem Ergebnis, daß die Klägerin die Arbeiten als Pflegehelferin nicht mehr ausüben könne. Mit Schreiben vom 7. Mai 1987 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 30. September 1987. Im Kündigungsschutzprozeß haben die Parteien vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg am 26. Mai 1989 einen Vergleich geschlossen und sich geeinigt, daß das Arbeitsverhältnis aufgrund der fristgerechten Kündigung der Beklagten vom 7. Mai 1987 zum 30. September 1987 beendet ist.

Zu dieser Zeit lief auch ein sozialgerichtliches Berufungsverfahren, weil die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) den Antrag der Klägerin vom 28. März 1983 auf Erwerbsunfähigkeitsrente abgelehnt und das Sozialgericht die dagegen erhobene Klage abgewiesen hatte. Nachdem die Sachverständigen ihre Gutachten erstattet hatten, schlossen die Klägerin und die BfA in der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 1991 vor dem Landessozialgericht folgenden Vergleich:

"1. Nach dem Ergebnis der heutigen Beweisaufnah-

me, insbesondere den Ausführungen von Dr. L -

, erkennt die Beklagte nunmehr an, daß

bei der Klägerin der Versicherungsfall der

Erwerbsunfähigkeit am 31. Januar 1991 einge-

treten ist und wird der Klägerin ab 1. Febru-

ar 1991 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit

ohne zeitliche Beschränkung gewähren unter

der Voraussetzung, daß die versicherungs-

rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind oder

- nach Maßgabe einer Belehrung durch die Be-

klagte - von der Klägerin erfüllt werden.

2. Die Klägerin erklärt sich bereit, etwa feh-

lende Beiträge für den Rentenanspruch nachzu-

entrichten.

3. ..."

Mit Rentenbescheid vom 25. Juli 1991 bewilligte die BfA der Klägerin für die Zeit ab 1. Februar 1991 eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 679,84 DM.

Mit Schreiben vom 27. August 1991 verlangte die Klägerin Ruhegeld nach dem Hamburger Ruhegeldgesetz (RGG). Die Beklagte lehnte dies ab.

§ 2 Abs. 1 und § 5 RGG lauten wie folgt:

"§ 2 Voraussetzungen

(1) Die vollbeschäftigten Angestellten und Arbei-

ter der Freien und Hansestadt Hamburg (Ar-

beitnehmer) erhalten unbeschadet der Vor-

schrift des § 1 Abs. 3 ein Ruhegeld, wenn sie

nach Erfüllung der Wartezeit (§ 4)

1. wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit

(§ 5) oder

2. mit Vollendung des 65. Lebensjahres oder

später ausscheiden.

...

§ 5 Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit

(1) Arbeitnehmer sind berufs- oder erwerbsunfähig

im Sinne dieses Gesetzes, wenn sie nach den

für die gesetzliche Rentenversicherung oder,

in den Fällen des § 7 Abs. 2 des Angestell-

tenversicherungsgesetzes, nach den für die

dort genannten Einrichtungen geltenden Vor-

schriften berufs- oder erwerbsunfähig sind.

...

(2) ...

(3) Hat der Rentenversicherungsträger den Antrag

auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ab-

gelehnt, so kann in Ausnahmefällen Ruhegeld

gewährt werden, wenn der Arbeitnehmer nach

dem Gutachten eines von der zuständigen Be-

hörde bestimmten Arztes seine bisherige Tä-

tigkeit nicht mehr ausüben kann, ihm eine an-

dere gesundheitlich und nach seinem berufli-

chen Werdegang zumutbare Tätigkeit nicht

nachgewiesen werden kann und das Beschäfti-

gungsverhältnis deshalb durch Kündigung des

Arbeitgebers oder durch einen vom Arbeitgeber

veranlaßten Auflösungsvertrag vor Eintritt

des Versorgungsfalles endet."

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der geltend gemachte Ruhegeldanspruch ergebe sich aus § 5 Abs. 3 RGG. Nicht jedem Wort in dieser Vorschrift komme eine eigenständige Bedeutung zu. Die Formulierung "in Ausnahmefällen" enthalte kein zusätzliches Tatbestandsmerkmal. Vielmehr werde der Ausnahmefall im Wenn-Satz erläutert. Der Arbeitnehmer solle Ruhegeld erhalten, wenn zwar der Versorgungsfall noch nicht eingetreten sei, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente jedoch wegen einer lediglich theoretisch gegebenen anderweitigen Verwendungsmöglichkeit nicht gezahlt werde. Diese Situation stelle bereits für sich genommen einen ausgesprochenen Härtefall dar.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt

festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei,

der Klägerin mit Wirkung vom 1. August 1991 ein

Ruhegeld gemäß den Vorschriften des Hamburger Ru-

hegeldgesetzes zu zahlen,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, über den Antrag der

Klägerin auf Zahlung von Ruhegeld gemäß den Vor-

schriften des Hamburger Ruhegeldgesetzes vom

27. August 1991 erneut unter Beachtung der

Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Klägerin stehe nach § 5 Abs. 3 RGG kein Ruhegeldanspruch zu. Die Formulierung "in Ausnahmefällen" enthalte eine zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung. Ein Ausnahmefall im Sinne dieser Regelung liege jedoch nicht vor. Im übrigen handele es sich bei der Ruhegeldzahlung nach § 5 Abs. 3 RGG um eine Ermessensleistung. Der Beklagten sei bei ihrer Entscheidung kein Ermessensfehler unterlaufen.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Ruhegeldanspruch nicht zu.

I. Ein Anspruch auf Ruhegeld wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit besteht nicht.

1. Nach § 2 Abs. 1 RGG setzt ein derartiger Ruhegeldanspruch voraus, daß der Arbeitnehmer nach Erfüllung der Wartezeit des § 4 RGG wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ausgeschieden ist. Nach § 5 Abs. 1 RGG ist der sozialversicherungsrechtliche Begriff der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit zugrunde zu legen. Die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ist durch den Bescheid des Sozialversicherungsträgers nachzuweisen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 RGG). Nach dem Rentenbescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 25. Juli 1991, der auf dem zwischen diesem Rentenversicherungsträger und der Klägerin geschlossenen Vergleich vom 13. Februar 1991 beruht, ist die Klägerin erst am 31. Januar 1991 erwerbsunfähig geworden. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin hatte jedoch bereits mit Ablauf des 30. September 1987 geendet.

2. Wenn Arbeitnehmer gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, sind sie noch nicht ohne weiteres berufs- oder erwerbsunfähig. Das Arbeitsverhältnis wäre allerdings dann "wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit" beendet worden, wenn die Klägerin schon vor Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses berufs- oder erwerbsunfähig gewesen wäre und lediglich die Feststellung durch den Rentenversicherungsträger erst nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis erfolgt wäre (vgl. BAG Urteil vom 30. Juni 1972 - 3 AZR 490/71 - AP Nr. 4 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Unterstützungskassen, zu 4 a der Gründe; BAG Urteil vom 13. Juli 1982 - 3 AZR 34/80 - BAGE 39, 166, 171 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Invaliditätsrente, zu 2 a und b der Gründe; BAG Urteil vom 14. August 1990 - 3 AZR 285/89 - AP Nr. 10 zu § 1 BetrAVG Invaliditätsrente, zu I 2 der Gründe). Im vorliegenden Fall spielt es keine Rolle, ob auf den in der Kündigung vorgesehenen Beendigungszeitpunkt (30. September 1987) oder auf den Vergleichsabschluß (26. Mai 1989) abzustellen ist. Beide Zeitpunkte lagen vor dem sozialversicherungsrechtlichen Beginn der Erwerbsunfähigkeit (31. Januar 1991).

3. Bei ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis hatte die Klägerin auch noch keine unverfallbare Anwartschaft auf ein Ruhegeld wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1, § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 BetrAVG waren nicht erfüllt. Die Klägerin hatte zwar bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses das 35. Lebensjahr vollendet. Die Versorgungszusage bestand jedoch noch keine zehn Jahre, und die Betriebszugehörigkeit betrug weniger als zwölf Jahre. Auch in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob auf den Kündigungsausspruch oder den Vergleichsabschluß abgestellt wird.

II. Die Beklagte ist auch nicht nach § 5 Abs. 3 RGG zur Zahlung des verlangten Ruhegeldes verpflichtet.

1. Der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 3 RGG beschränkt sich allerdings nicht auf die Fälle, in denen der Rentenversicherungsträger die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückwirkend auf einen Zeitpunkt vor Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis feststellt. Eine derartige Einschränkung läßt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen. Im übrigen besteht nach § 2 Abs. 1 RGG ein Anspruch auf Ruhegeld wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bereits dann, wenn Arbeitnehmer deshalb ausscheiden, weil sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr die geschuldete Arbeitsleistung erbringen können und die schon vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehende Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit rückwirkend festgestellt wird (vgl. BAG Urteil vom 30. Juni 1972 - 3 AZR 490/71 -, aaO, Urteil vom 13. Juli 1982 - 3 AZR 34/80 -, aaO, und Urteil vom 14. August 1990 - 3 AZR 285/89 -, aaO). Würde § 5 Abs. 3 RGG nur in diesen Fällen angewandt, so wäre die Vorschrift überflüssig. Dem Gesetzgeber kann nicht unterstellt werden, daß er eine unnötige Regelung schaffen und beibehalten wollte. Die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 RGG stammt zwar aus einer Zeit, als das Bundesarbeitsgericht noch nicht über die Auslegung derartiger Regelungen entschieden hatte. § 5 Abs. 3 RGG ist aber mit dem Elften Gesetz zur Änderung des Ruhegeldgesetzes vom 19. September 1986 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1986 S. 293) neu gefaßt worden. Zu diesem Zeitpunkt mußten die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 30. Juni 1972 (- 3 AZR 490/71 -, aaO) und vom 13. Juli 1982 (- 3 AZR 34/80 -, aaO) bekannt sein.

2. Obwohl der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 3 RGG weiter ist, als die Beklagte zunächst gemeint hat, ist sie nach dieser Vorschrift nicht zur Ruhegeldzahlung verpflichtet. Das Landesarbeitsgericht hat die in § 5 Abs. 3 RGG verwandten Begriffe "in Ausnahmefällen" und "kann" richtig ausgelegt und angewandt. Entgegen der Auffassung der Klägerin läßt sich dem § 5 Abs. 3 RGG nicht entnehmen, daß in der Regel eine Ruhegeldanspruch bestehe, wenn der Rentenversicherungsträger den Antrag auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit abgelehnt habe, der Arbeitnehmer jedoch nach dem Gutachten eines von der zuständigen Behörde bestimmten Arztes seine bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben könne, ihm eine andere zumutbare Tätigkeit nicht nachgewiesen werden könne und das Beschäftigungsverhältnis deshalb durch Kündigung des Arbeitgebers oder durch einen vom Arbeitgeber veranlaßten Auflösungsvertrag ende. Die von der Klägerin vertretene Auslegung des § 5 Abs. 3 RGG läßt sich weder mit dem Gesetzeswortlaut vereinbaren noch mit dem Gesetzeszweck begründen.

a) Nach § 5 Abs. 3 RGG "kann in Ausnahmefällen Ruhegeld gewährt werden", wenn die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Die in § 5 Abs. 3 RGG beschriebene Fallgestaltung führt nach dem Gesetzestext lediglich zu einer auf Ausnahmefälle beschränkten Ermessensleistung. Der Arbeitgeber ist weder allgemein noch in der Regel zur Zahlung eines Ruhegeldes verpflichtet.

aa) Der mit dem Wort "wenn" eingeleitete Halbsatz enthält weder eine beispielhafte Erläuterung noch eine abschließende Definition des Begriffs "Ausnahmefall". Soweit das Hamburger Ruhegeldgesetz Begriffsbestimmungen enthält, wie etwa in § 5 Abs. 1, kommt dies unmißverständlich zum Ausdruck. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber zwei Absätze weiter ebenfalls einen Begriff definieren wollte, ohne aber die dafür gebräuchlichen Formulierungen zu verwenden.

bb) Nach dem grammatikalischen Aufbau und der Wortwahl enthalten der erste Halbsatz und der dritte Halbsatz (Wenn-Satz) die Voraussetzungen der im zweiten Halbsatz vorgesehenen, auf Ausnahmefälle beschränkten Ermessensleistung. Danach entsteht nicht automatisch oder regelmäßig eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung von Ruhegeld. Nach der Auslegung der Klägerin würde es sich jedoch zumindest um eine Regelleistung handeln und damit die Ausnahmevorschrift in ihr Gegenteil verkehrt.

b) Auf den Gesetzeszweck kann sich die Klägerin nicht berufen. Sie unterstellt einen Zweck, der mit dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes nicht zu vereinbaren ist.

Nach § 2 Abs. 1 RGG erhält ein Arbeitnehmer nur bei Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit oder bei Erreichen des gesetzlich bestimmten Alters ein Ruhegeld. § 5 Abs. 3 RGG hat weder den Begriff der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erweitert noch einen zusätzlichen Versorgungsfall eingeführt, der ohne weiteres eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung von Ruhegeld auslöst. Diese Vorschrift ermächtigt den Arbeitgeber lediglich dazu, ausnahmsweise "vor Eintritt des Versorgungsfalles" Ruhegeld zu gewähren. Dem System der betrieblichen Altersversorgung entspricht es, Versorgungsleistungen erst ab Eintritt des Versorgungsfalles zu gewähren. Folgerichtig wird eine Abweichung von diesem Grundsatz auf Ausnahmefälle beschränkt und in das Ermessen des Arbeitgebers gestellt.

3. Zu Recht haben die Vorinstanzen einen Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 3 RGG verneint.

a) Ein Ausnahmefall setzt besondere Umstände voraus. Die Unterschiede zum Regelfall müssen so erheblich sein, daß ein Abweichen vom Grundsatz gerechtfertigt ist. Das Lebensalter des Arbeitnehmers ist ein wichtiger Gesichtspunkt, wie u.a. § 1 Abs. 1 BetrAVG zeigt, aber nicht das einzige Kriterium. Da das Ruhegeld eine Arbeitsvergütung im weiteren Sinne darstellt, sind vor allem auch arbeitsvertragsbezogene Umstände zu berücksichtigen, wie etwa lange Betriebszugehörigkeit oder besondere Belastungen durch die geleistete Arbeit.

b) Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin lag kein Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 3 RGG vor.

aa) Haben die Rentenversicherungsträger eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente abgelehnt und ist das Arbeitsverhältnis beendet worden, weil der Arbeitnehmer aufgrund seines Gesundheitszustandes die bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben und auch nicht anderweitig beschäftigt werden konnte, so gerät er in aller Regel in eine schwierige wirtschaftliche Lage. Allein diese für den Tatbestand des § 5 Abs. 3 RGG typische Härte reicht für einen Ausnahmefall noch nicht aus.

bb) Die Klägerin war bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zwar über 50 Jahre alt, aber nur etwas mehr als acht Jahre beschäftigt. Entgegen ihrer Ansicht ist es unerheblich, daß nach § 4 Abs. 1 RGG in der bis zum 31. Januar 1991 geltenden Fassung die Wartezeit für die Regelleistungen fünf Jahre betrug. Die Klägerin verlangt eine auf Ausnahmefälle begrenzte Sonderleistung, obwohl sie die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BetrAVG für eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft noch nicht erfüllt hatte und deshalb beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis noch keinen betriebsrentenrechtlichen Schutz genoß.

cc) Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob bereits eine finanzielle Notlage unabhängig von den sonstigen Umständen als Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 3 RGG anzusehen ist. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend ausgeführt, daß sich dem Parteivorbringen keine finanzielle Notlage entnehmen läßt. Die Klägerin hat sich auf ihre niedrige Erwerbsunfähigkeitsrente, die geringen Bezüge ihres Ehemannes und die Unterhaltspflichten für zwei Kinder berufen. Nach ihrem eigenen Vorbringen erhielt ihr Ehemann eine monatliche Rente von 2.100,-- DM, einen monatlichen Sozialzuschlag für zwei Kinder in Höhe von 280,-- DM sowie ein Kindergeld in Höhe von 120,-- DM. Ihr selbst war ab 1. Februar 1991 eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 679,84 DM bewilligt worden. Im übrigen hat die Klägerin weder die Höhe des Anspruchs ihres Sohnes Rainer nach dem BAföG noch die Höhe der ihrem Sohn Markus seit August 1991 zustehenden Ausbildungsvergütung angegeben, obwohl die Beklagte im Schriftsatz vom 3. Mai 1993 auf das Fehlen eines entsprechenden Vortrags hingewiesen hatte.

dd) Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, sie habe die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1, § 5 Abs. 1 und 2 RGG für einen Anspruch auf Ruhegeld wegen Erwerbsunfähigkeit nur deshalb nicht erfüllt, weil das sozialgerichtliche Verfahren über fünf Jahre gedauert habe. Zutreffend hat die Beklagte ausgeführt, daß nicht die Dauer, sondern das Ergebnis des sozialgerichtlichen Verfahrens ausschlaggebend ist. Wenn die Klägerin der Ansicht war, daß ihre Erwerbsunfähigkeit nach den eingeholten Gutachten bereits bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorlag, hätte sie das sozialgerichtliche Verfahren weiterbetreiben und den Abschluß eines Vergleichs, der einen späteren Zeitpunkt der Erwerbsunfähigkeit vorsieht, ablehnen können.

Ebenso ist es unerheblich, daß der Vergleich vor dem Landesarbeitsgericht während des laufenden sozialgerichtlichen Verfahrens abgeschlossen wurde. Der Vergleichsabschluß erfolgte mit anwaltlicher Unterstützung ohne Vorbehalt. Die Klägerin wußte, daß der Ausgang des vor dem Landessozialgericht Hamburg anhängigen Berufungsverfahrens ungewiß war. Zweck des § 5 Abs. 3 RGG ist es nicht, den Arbeitnehmer von Risiken arbeitsgerichtlicher und sozialgerichtlicher Vergleiche zu entlasten.

4. Entgegen der Ansicht der Klägerin läßt sich weder die Formulierung "in Ausnahmefällen" noch das Wort "kann" weginterpretieren oder bis zur praktischen Bedeutungslosigkeit relativieren. Mit dem Wort "kann" ist dem Arbeitgeber ein Ermessen eingeräumt worden. Bei dieser Ermessensentscheidung handelt es sich um keinen Verwaltungsakt, sondern um eine einseitige Leistungsbestimmung des Arbeitgebers im Sinne des § 315 BGB. Sie muß nach § 315 Abs. 1 BGB der Billigkeit entsprechen. Die Entscheidung der Beklagten, der Klägerin kein Ruhegeld zu zahlen, ist bei Abwägung der beiderseitigen Interessen und unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände nicht zu beanstanden.

a) Bei der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB ist das Verhältnis von Regel und Ausnahme zu beachten (vgl. BAG Urteil vom 9. November 1978 - 3 AZR 784/77 - AP Nr. 179 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu III 1 der Gründe; BAG Urteil vom 25. Oktober 1994 - 3 AZR 149/94 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt, zu I 2 a der Gründe). Die Klägerin möchte dieses Verhältnis verändern und - jedenfalls im Ergebnis - den Ausnahmetatbestand zum Regeltatbestand machen. Sie übersieht, daß die Zahlung eines Ruhegeldes vor Eintritt des Versorgungsfalles eine auf Ausnahmefälle beschränkte Abweichung vom System des Hamburger Ruhegeldgesetzes darstellt.

b) Abgesehen davon, daß sich die Klägerin in keiner finanziellen Notlage befand, sind die wirtschaftlichen Verhältnisse jedenfalls nicht der einzige für die Ermessensentscheidung maßgebliche Gesichtspunkt. Nach § 315 BGB ist eine umfassende Abwägung erforderlich, in die alle Umstände einzubeziehen sind, soweit der Zweck der Ruhegeldzahlung nicht entgegensteht.

c) Die Erfüllung der Wartezeit, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch fünf Jahre betrug, kann nicht zugunsten der Klägerin berücksichtigt werden. Sie ist bereits Voraussetzung des Regeltatbestandes. Ausnahmen von der Wartezeit sind auch im Rahmen des Härteausgleichs nicht zulässig (§ 37 Satz 3 RGG).

d) Die Beklagte durfte berücksichtigen, wie lange die Klägerin die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich erbracht hatte. Das Ruhegeld hat nicht nur Versorgungs(Fürsorge)-, sondern auch Entgeltcharakter (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. u.a. Urteil vom 10. März 1972 - 3 AZR 278/71 - BAGE 24, 177, 183 = AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu A II 2 a der Gründe; Urteil vom 15. Februar 1994 - 3 AZR 708/93 - AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung, zu III 2 b (3) der Gründe). Folgerichtig hat die Beklagte es als wesentlich angesehen, daß die Klägerin während ihres über acht Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses insgesamt nicht einmal zwei Jahre lang tatsächlich gearbeitet hat.

e) Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob eine mit § 5 Abs. 3 RGG nicht zu vereinbarende Verwaltungspraxis eine Selbstbindung der Beklagten auslösen könnte. Nach dem im Berufungsverfahren unstreitig gewordenen Sachverhalt gibt es bei der Beklagten keine Verwaltungspraxis, die der Klägerin zugute kommen könnte.

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vorgetragen, sie verlange als Regelvoraussetzung für die Gewährung eines Ruhegeldes nach § 5 Abs. 3 RGG eine Beschäftigungszeit von mindestens zehn Jahren und ein Lebensalter beim Ausscheiden von mindestens 55 Jahren. Bei gewerblichen Arbeitnehmern, die im Prämienlohn beschäftigt worden seien, werde dieses Alter im Einzelfall wegen der besonderen Belastungen ihrer Tätigkeit auch unterschritten. Bei Rationalisierungsmaßnahmen werde unter Umständen großzügiger verfahren. Nach dem Inhalt der Sitzungsniederschrift hat die Klägerin dieses Vorbringen nicht bestritten. Sie hat auch keinen Antrag auf Protokollberichtigung gestellt. Nach § 561 Abs. 1 ZPO unterliegt der Beurteilung des Revisionsgerichts das Parteivorbringen, das aus dem Tatbestand des Berufungsurteils oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist. Selbst die Revisionsbegründung knüpft auf S. 9 Abs. 4 und 5 an die von der Beklagten vorgetragene Verwaltungspraxis an. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, daß diese Verwaltungspraxis mit § 5 Abs. 3 RGG nicht zu vereinbaren sei. Abgesehen davon, daß die Klägerin § 5 Abs. 3 RGG nicht richtig auslegt hat, spielt die von der Klägerin beanstandete Verwaltungspraxis der Beklagten im vorliegenden Fall keine Rolle. Die Ablehnung der Ruhegeldzahlung ist unter Berücksichtigung aller Umstände rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte die Beklagte darauf abstellen, daß die Klägerin während ihres Arbeitsverhältnisses lediglich kurze Zeit tatsächlich gearbeitet hat.

Dr. Heither Kremhelmer Bepler

Michels O. Hofmann

 

Fundstellen

Haufe-Index 438534

DB 1996, 481-482 (LT1-3)

NZA 1996, 427

NZA 1996, 427-430 (LT1-3)

AP § 1 BetrAVG (L1-3), Nr 35

AP § 2 RuhegeldG Hamburg (LT1-3), Nr 1

EzA § 242 RGG, Nr 110 (LT1-3)

EzBAT § 46 BAT Hamburger Ruhegeldgesetz, Nr 1 (LT1-3)

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