Entscheidungsstichwort (Thema)

Kältezulage bei den alliierten Streitkräften

 

Leitsatz (redaktionell)

Nachdem etwa 30 Jahre lang bei den alliierten Streitkräften die Kältezulage bei Kältegraden ab 0 Grad Celsius gezahlt wurde und die Tarifvertragsparteien in Kenntnis dieser Handhabung die tarifliche Regelung unverändert beibehalten haben, ist die Bestimmung über Tätigkeiten, die "in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte ausgesetzt sind", dahin auszulegen, daß sie Außenarbeiten bei Temperaturen von 0 Grad Celsius und darunter erfassen.

 

Normenkette

ALTV 2 Anhang S; ALTV § 21; ALTV 2 § 21

 

Verfahrensgang

LAG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.05.1986; Aktenzeichen 7 Sa 101/86)

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 12.11.1985; Aktenzeichen 4a Ca 256/85 P)

 

Tatbestand

Der Kläger, der Mitglied der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) ist, ist seit dem Jahre 1984 bei den amerikanischen Streitkräften als Straßenarbeiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für die Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TVAL II) kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit unmittelbar und zwingend Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).

Die Beklagte gewährte fast 30 Jahre lang für Außenarbeiten, die bei einer Temperatur von 0 Grad Celsius und weniger ausgeführt wurden, eine Erschwerniszulage. Auf Weisung der vorgesetzten US-Dienststelle zahlte die Beschäftigungsstelle des Klägers die Erschwerniszulage ab 1. Januar 1985 nur noch bei Temperaturen von minus 10 Grad Celsius und weniger.

Der Kläger, der in den Monaten Januar und Februar 1985 insgesamt 99 Stunden Arbeiten im Freien bei Temperaturen von 0 Grad Celsius und weniger verrichtete, hat die Auffassung vertreten, daß ihm eine Erschwerniszulage in Höhe von 10 v. H. der Grundvergütung pro Stunde nach dem Anhang S Ziff. II. 1. in Verbindung mit § 21 Ziff. 4 b) (4) TVAL II zustehe. Bei Temperaturen von 0 Grad Celsius und weniger sei die Tätigkeit im tariflichen Sinne "in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte" ausgesetzt. Insoweit habe sich eine tarifliche Übung gebildet, von der sich die Beklagte nicht einseitig lösen könne.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn

122,60 DM brutto nebst 4 % Zinsen

seit Klagezustellung aus dem Netto-

betrag von 100,-- DM zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, daß dem Kläger eine Erschwerniszulage nicht zustehe. Bei Arbeiten, die bei einer Temperatur von 0 Grad Celsius bis minus 10 Grad Celsius ausgeführt werden, seien die tariflichen Voraussetzungen für die Zahlung einer Erschwerniszulage nicht erfüllt. Die Arbeit werde bei derartigen Temperaturen nicht unter besonders erschwerenden Umständen ausgeführt, da sie mit den sonstigen im Tarifvertrag genannten Arbeitserschwernissen, wie außergewöhnlicher Beschmutzung, besonderer Gefährlichkeit oder Gesundheitsschädlichkeit oder außerordentlicher Beanspruchung der Körperkräfte nicht vergleichbar sei. Dies könne nach billigem Ermessen erst bei Temperaturen unter minus 10 Grad Celsius angenommen werden. Nur in diesem Falle seien die Tätigkeiten auch in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte im tariflichen Sinne ausgesetzt. Eine anderweitige tarifliche Übung sei unbeachtlich, da sie mit dem Wortlaut der tariflichen Bestimmung im Widerspruch stehe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und Zinsen aus dem sich aus 122,60 DM brutto ergebenden Nettobetrag zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend erkannt, daß dem Kläger ein Anspruch auf die geltend gemachte Erschwerniszulage nach dem Anhang S Ziffer II.1. TVAL II zusteht.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Vorschriften des TVAL II kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit unmittelbar und zwingend Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Danach sind für den Anspruch des Klägers auf die begehrte Erschwerniszulage folgende tariflichen Vorschriften heranzuziehen:

Anhang S

II. Zulagen für allgemeine Arbeitserschwernisse

1. Tätigkeiten, die in besonderem Maße den

Einflüssen von Schmutz, Schlamm, Hitze,

Kälte, Wasser, Rauch, Dämpfen, Gasen,

Säuren, Ätzstoffen, Giftstoffen, Erschütte-

rungen oder ähnlichem sowie Witterungs-

einflüssen ausgesetzt sind.

Ferner enthält die Vorschrift des § 21 Ziffer 4 TVAL II unter der Überschrift "Erschwerniszulagen" folgende Regelungen:

a) Arbeitserschwernisse - siehe Abschnitt b) -

sind grundsätzlich mit dem tarifvertraglich

vereinbarten Lohn oder Gehalt abgegolten,

soweit für sie nicht Erschwerniszulagen im

Anhang S besonders vereinbart sind.

b) Arbeitserschwernisse liegen vor, wenn die

Arbeiten

(1) den Körper oder die eigene Arbeitskleidung

des Arbeitnehmers außerordentlich beschmutzen,

oder

(2) besonders gefährlich, ekelerregend oder gesund-

heitsschädlich sind, oder

(3) die Körperkräfte außerordentlich beanspruchen,

oder

(4) unter besonders erschwerenden Umständen aus-

geführt werden müssen.

Anspruchsgrundlage für den Anspruch auf Zahlung der Erschwerniszulage ist entgegen der Auffassung der Beklagten allein der Anhang S Ziff. II. 1. TVAL II und nicht die tarifliche Bestimmung des § 21 Ziff. 4 b) (4) TVAL II. Dies folgt daraus, daß § 21 Ziff. 4 a) auf die besondere Vereinbarung von Erschwerniszulagen im Anhang S verweist. Dabei enthält der Anhang S in Ziffer II.1. auch Beispielsfälle hinsichtlich der Ausführung von Arbeiten unter besonders erschwerenden Umständen im Sinne von § 21 Ziffer 4 b) (4) TVAL II. Unter besonders erschwerenden Umständen wird eine Arbeit nämlich dann ausgeführt, wenn sie in besonderem Maße den Einflüssen von Hitze, Kälte, Wasser oder Witterungseinflüssen ausgesetzt ist (BAG Urteil vom 3. September 1986 - 4 AZR 315/85 - zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; Urteil vom 14. Januar 1987 - 4 AZR 510/85 - unveröffentlicht). Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, daß die vom Kläger im Anspruchszeitraum verrichteten Tätigkeiten in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte ausgesetzt waren, weil der Kläger im Freien bei Temperaturen von 0 Grad Celsius und weniger gearbeitet hat.

Dem ist zuzustimmen. Die Tarifvertragsparteien haben weder den Begriff der "Kälte" definiert noch erläutert, wann eine Tätigkeit "in besonderem Maße" den Einflüssen von Kälte ausgesetzt ist. Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang läßt sich eine Begriffsbestimmung nicht herleiten. Insbesondere kann entgegen der Auffassung der Beklagten aus der Aufzählung der Arbeitserschwernisse in § 21 Ziff. 4 b) TVAL II nicht gefolgert werden, daß die besonders erschwerenden Umstände im Sinne von § 21 Ziffer 4 b) (4) TVAL II mit den in § 21 Ziffer 4 b) (1) TVAL II (außerordentliche Beschmutzung des Körpers oder der eigenen Arbeitskleidung), in § 21 Ziffer 4 b) (2) TVAL II (besonders gefährliche, ekelerregende oder gesundheitsschädliche Arbeiten) und den in § 21 Ziffer 4 b) (3) TVAL II (außerordentliche Körperbeanspruchung) genannten Umständen vergleichbar sein müssen. Dem Wortlaut des Tarifvertrages läßt sich keine Gewichtung der aufgeführten Arbeitserschwernisse entnehmen. Diese stehen vielmehr gleichrangig nebeneinander und begründen einen Anspruch auf eine Erschwerniszulage nach Maßgabe der tariflichen Bestimmungen im Anhang S.

Läßt sich damit dem tariflichen Gesamtzusammenhang nicht entnehmen, welche Anforderungen die Tarifvertragsparteien an die Ausführung von Tätigkeiten, die in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte ausgesetzt sind, stellen, so ist zur Begriffsbestimmung der allgemeine Sprachgebrauch heranzuziehen (BAG Urteil vom 19. Juni 1963 - 4 AZR 125/62 - AP Nr. 116 zu § 1 TVG Auslegung). Kälte bedeutet danach einen relativen Mangel an fühlbarer Wärme, der durch niedrige Temperatur der Umgebung oder durch Wärmeentzug hervorgerufen sein kann (Großer Brockhaus, Stichwort: Kälte). Kälte in diesem Sinne ist damit nicht an eine bestimmte Temperatur gebunden. Umgangssprachlich werden allerdings die unter dem Gefrierpunkt des Wassers und damit unter 0 Grad Celsius liegenden Temperaturgrade als Kältegrade bezeichnet (Großer Brockhaus, aaO; Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Stichwort: Kälte).

Die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch mögliche Bestimmung des Begriffs der Kälte führt jedoch zu keiner eindeutigen Tarifauslegung in bezug auf die tariflichen Voraussetzungen für den Anspruch auf die Erschwerniszulage. Dem Tarifwortlaut läßt sich nämlich nicht entnehmen, von welcher Temperatur an Tätigkeiten "in besonderem Maße" den Einflüssen von Kälte ausgesetzt sind. Dies könnte bei Temperaturen ab 0 Grad Celsius oder auch erst bei erheblich unter 0 Grad Celsius liegenden Temperaturen der Fall sein (vgl. Pretzsch/Schalkhäuser/Rechenberg, Das Recht der Arbeitnehmer bei den Streitkräften (Ausländische Mächte), 1955, S. 141, die zu den Witterungseinflüssen im tariflichen Sinne nur starke Kälte rechnen).

Ist eine eindeutige Tarifauslegung nach Tarifwortlaut und tariflichem Gesamtzusammenhang nicht möglich, so bleibt entgegen der Auffassung der Beklagten die Bestimmung des Inhalts der tariflichen Normen nicht dem billigen Ermessen des Arbeitgebers im Sinne von § 315 Abs. 1 BGB überlassen. Vielmehr berücksichtigt das Landesarbeitsgericht zutreffend und in Übereinstimmung mit der Senatsrechtsprechung, daß in solchen Fällen zur Ermittlung des wirklichen Willens der Tarifvertragsparteien auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages zurückgegriffen werden muß (BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Das Landesarbeitsgericht stellt hierzu fest, daß seit fast 30 Jahren eine tarifliche Übung bestanden habe, die Erschwerniszulage bei Tätigkeiten zu zahlen, die bei 0 Grad und weniger ausgeführt werden. Die Auslegung der Tarifnorm entsprechend dieser tariflichen Übung durch das Landesarbeitsgericht ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung des Senats liegt eine für Zwecke der Tarifauslegung heranzuziehende rechtserhebliche Tarifübung nur dann vor, wenn sie in Kenntnis und mit Billigung der Tarifvertragsparteien praktiziert wird (BAGE 40, 67, 72 = AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifliche Übung) und eine anderweitige, eindeutige Tarifauslegung nach Wortlaut und tariflichem Gesamtzusammenhang nicht möglich ist (BAG Urteil vom 23. April 1986 - 4 AZR 128/85 -, zur Veröffentlichung bestimmt, unter Bezugnahme auf BAGE 46, 308, 314 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung, Urteil vom 9. Juli 1980 - 4 AZR 560/78 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt und Urteil vom 23. Oktober 1985 - 4 AZR 119/84 - AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAGE 23, 424, 429 = AP Nr. 15 zu § 611 BGB Bergbau; BAGE 24, 279, 286 = AP Nr. 16 zu § 611 BGB Bergbau; Urteil vom 13. November 1974 - 4 AZR 106/74 - AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; Urteil vom 11. Dezember 1974 - 4 AZR 108/74 - AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung; Urteil vom 10. November 1976 - 4 AZR 421/75 - AP Nr. 5 zu § 1 TVG: Rundfunk; Urteil vom 4. Juni 1980 - 4 AZR 497/78 - AP Nr. 4 zu § 21 MTB II).

Diese Voraussetzungen hat das Landesarbeitsgericht vorliegend rechtsbedenkenfrei festgestellt. Zwar führt das Landesarbeitsgericht zunächst die Handhabung der Tarifnorm durch die Beschäftigungsdienststelle an. Diese allein könnte eine tarifliche Übung nicht begründen. Das Landesarbeitsgericht stellt aber anschließend fest, daß beide Tarifvertragsparteien, d. h. die Bundesrepublik Deutschland und die Gewerkschaft ÖTV, aufgrund eines Rechtsstreits schon im Jahre 1956 Kenntnis von der vorliegenden Problematik hatten und gleichwohl weiterhin die Erschwerniszulage bei Temperaturen von 0 Grad Celsius und darunter gezahlt wurde. Zutreffend berücksichtigt das Landesarbeitsgericht außerdem, daß in den Jahren 1973 bei Änderungen im Anhang S und 1976 bei Änderung des § 21 Ziffer 4 a) TVAL II Gelegenheit bestanden hätte, eine andere Regelung zu treffen. Daraus folgert das Landesarbeitsgericht zu Recht eine Billigung der tariflichen Übung durch die Tarifvertragsparteien. Diese ergibt sich auf seiten der Beklagten, die selbst Tarifvertragspartei ist, insbesondere daraus, daß jahrzehntelang die entsprechenden Erschwerniszulagen gezahlt wurden (vgl. BAGE 46, 308 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Behalten die Tarifvertragsparteien in Kenntnis einer tariflichen Übung diese bei, so kann dies nur so verstanden werden, daß sie sie für zutreffend halten. Anderenfalls hätten sie die Voraussetzungen zur Zahlung der Erschwerniszulage bei Tätigkeiten, die in besonderem Maße den Einflüssen von Kälte ausgesetzt sind, anders bestimmen können. Dies ist z. B. im Tarifvertrag über die Lohnzuschläge gemäß § 29 MTL II in Ziffer 35 der Anlage geschehen, wonach ein Zuschlag für Reparaturarbeiten an Geräten oder Maschinen oder Montagearbeiten im Freien bei Kälte von unter minus 10 Grad Celsius zu gewähren ist. Solange die Tarifvertragsparteien des TVAL II eine solche Regelung nicht treffen, ist zur Tarifauslegung die bisherige tarifliche Übung heranzuziehen. Dem steht auch nicht entgegen, daß nach dem Vortrag der Beklagten eine Beschäftigungsdienststelle bereits bei Temperaturen ab plus 5 Grad Celsius und darunter die Erschwerniszulage gezahlt hat. Vielmehr spricht dieser Umstand dafür, daß jedenfalls den Tarifvertragsparteien die praktische Handhabung der Gewährung der Erschwerniszulage bei Temperaturen ab 0 Grad Celsius und darunter als angemessen erschien. Der sich daraus für den Kläger ergebende tarifliche Anspruch ist entgegen der Auffassung der Beklagten demzufolge auch nicht davon abhängig, ob der Kläger selbst in der Vergangenheit entsprechend der tariflichen Übung Erschwerniszulagen bezogen hat.

Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

Dr. Neumann Dr. Etzel Dr. Freitag

H. Hauk Dr. Konow

 

Fundstellen

Haufe-Index 439346

RdA 1987, 256

AP § 21 TVAL II (LT), Nr 4

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