Entscheidungsstichwort (Thema)

Abfindung bei Ablehnung eines Ersatzarbeitsplatzes. Fortführung der Senatsrechtsprechung aus dem Urteil vom 26. Oktober 1995 – 6 AZR 928/94 – AP Nr. 23 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR

 

Leitsatz (amtlich)

  • Ob dem Arbeitnehmer die Annahme eines anderen angebotenen Arbeitsplatzes nach § 2 Abs. 5 Buchst. a TV soziale Absicherung billigerweise deshalb nicht zugemutet werden kann, weil es sich um eine Teilzeitbeschäftigung handelt, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles.
  • Die Annahme einer Teilzeitbeschäftigung mit 3/4 der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollbeschäftigten ist grundsätzlich nicht unzumutbar.
 

Normenkette

Tarifvertrag zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 (TV soziale Absicherung) § 2

 

Verfahrensgang

Thüringer LAG (Urteil vom 21.02.1995; Aktenzeichen 7 Sa 199/94)

ArbG Eisenach (Urteil vom 06.01.1994; Aktenzeichen 2 Ca 999/93)

 

Tenor

  • Auf die Revision des beklagten Freistaates wird das Urteil des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 21. Februar 1995 – 7 Sa 199/94 – aufgehoben.
  • Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Eisenach vom 6. Januar 1994 – 2 Ca 999/93 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das Versäumnisurteil vom 24. August 1993 aufgehoben wird und dem beklagten Freistaat die Kosten der Säumnis auferlegt werden.
  • Die Klägerin hat auch die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Klägerin verlangt von dem Beklagten wegen Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses eine Abfindung.

Die Klägerin war bei dem Beklagten zuletzt als Leiterin des dem Staatlichen Gymnasium R… angegliederten Internats vollzeitbeschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme der Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10. Dezember 1990 Anwendung. Wegen Auflösung des Internats in R… bot der Beklagte der Klägerin eine ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechende 3/4 Stelle als Lehrerin an der 8. Regelschule in E… an. Die Entfernung zwischen R… und E… beträgt 22 Kilometer. Die Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln beträgt ca. 40 Minuten. Die Klägerin, die nicht im Besitze einer Fahrerlaubnis ist, hat ihren Wohnsitz in R….

Sie teilte dem Beklagten mit Schreiben vom 16. Januar 1992 mit, daß sie auf eine Vollbeschäftigung angewiesen sei und im Hinblick auf ihre von ihr zu betreuende pflegebedürftige Mutter für eine Beschäftigung u.a. in E… sehr dankbar wäre. Die angebotene 3/4 Stelle lehnte sie ab. Daraufhin kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin wegen mangelnden Bedarfs zum 30. September 1992.

Die Klägerin verlangte von dem Beklagten erfolglos die Zahlung einer der Höhe nach unstreitigen Abfindung nach dem Tarifvertrag zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 (TV soziale Absicherung). In diesem heißt es:

“Vorbemerkungen:

Die Tarifvertragsparteien sind sich darüber einig, daß bei erforderlichen Umstrukturierungen die Sicherung von Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Qualifizierung der Arbeitnehmer unter Nutzung aller bestehenden Möglichkeiten Vorrang hat gegenüber Entlassungen und den damit verbundenen Maßnahmen zur sozialverträglichen Abfederung.

Soweit trotz der Zielsetzung ein weiterer Arbeitsplatzabbau im Rahmen der Umstrukturierung unvermeidlich ist, gilt folgendes:

§ 2

Abfindung

  • Ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis gekündigt wird, weil

    • er wegen mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar ist oder
    • die bisherige Beschäftigungsstelle ersatzlos aufgelöst wird … oder eine anderweitige Verwendung nicht mehr möglich ist,

      erhält eine Abfindung. …

  • Eine Abfindung steht nicht zu, wenn

    • die Kündigung aus einem vom Arbeitnehmer zu vertretenden Grund (z.B. Ablehnung eines anderen angebotenen Arbeitsplatzes, es sei denn, daß ihm die Annahme nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten billigerweise nicht zugemutet werden kann) erfolgt ist …

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe gegen den Beklagten einen tarifvertraglichen Anspruch auf Abfindung, weil ihr die Annahme der 3/4 Stelle in E… nicht zumutbar gewesen sei. Eine Reduzierung des Arbeitsentgeltes um 25 % mit den zusätzlich anfallenden Fahrtkosten wäre für sie unbillig gewesen. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, daß sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei und eine pflegebedürftige Mutter zu versorgen habe.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie 10.000,-- DM Abfindung nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Oktober 1993 zu zahlen.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, der Klägerin stehe eine tarifliche Abfindung nicht zu, da die Klägerin den ihr angebotenen und nach ihren Kenntnissen und Fähigkeiten zumutbaren Arbeitsplatz an der 8. Regelschule in E… abgelehnt habe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage durch Versäumnisurteil vom 24. August 1993 stattgegeben. Auf den Einspruch des Beklagten hat es die Klage abgewiesen, ohne das Versäumnisurteil aufzuheben. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt der Beklagte weiterhin seinen Antrag auf Klageabweisung. Die Klägerin bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Sie führt unter Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts zur Zurückweisung der Berufung der Klägerin mit der Maßgabe, daß das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts vom 24. August 1993 aufgehoben wird. Der Klägerin steht ein Anspruch auf die tarifliche Abfindung nicht zu.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe gegen den Beklagten einen Anspruch auf Abfindung in unstreitiger Höhe von 10.000,-- DM. Die Annahme der angebotenen 3/4-Stelle in E… sei der Klägerin billigerweise nicht zumutbar gewesen. Obwohl eine Unzumutbarkeit nicht bereits aus den mit dem Wechsel des Arbeitsortes verbundenen Belastungen für die Klägerin folge und eine Gleichwertigkeit des angebotenen anderen Arbeitsplatzes nicht gegeben sein müsse, sei unter Zugrundelegung der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung vom 16. März 1982 (ANBA S. 523) (fortan: Zumutbarkeits-Anordnung) von einem für die Klägerin unzumutbaren Angebot einer Teilzeitbeschäftigung auszugehen. Nach §§ 8, 10 Zumutbarkeits-Anordnung seien der Klägerin in den ersten sechs Monaten der Arbeitslosigkeit nur Beschäftigungen zumutbar, deren Arbeitsentgelt mindestens 80 % des letzten Bruttoarbeitsentgelts erreiche. Die Vergütung für die der Klägerin vom Beklagten angebotene 3/4 Stelle unterschreite diese Grenze.

Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts vermag der Senat nicht zu folgen.

II. Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat zwar die Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a TV soziale Absicherung erfüllt, weil das Arbeitsverhältnis vom Beklagten wegen mangelnden Bedarfs gekündigt wurde. Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf eine Abfindung. Nach § 2 Abs. 5 Buchst. a TV soziale Absicherung steht eine Abfindung nicht zu, wenn die Kündigung aus einem von dem Arbeitnehmer zu vertretenden Grund erfolgt ist. Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt.

1. Nach dem Klammerzusatz in § 2 Abs. 5 Buchst. a TV soziale Absicherung (fortan: Klammerzusatz) ist es als ein vom Arbeitnehmer zu vertretender Kündigungsgrund anzusehen, wenn der Arbeitnehmer einen anderen angebotenen Arbeitsplatz ablehnt. So lag der Fall hier. Die Klägerin hat den Arbeitsplatz in E… abgelehnt und damit den in dem Klammerzusatz genannten Beispielssachverhalt erfüllt.

2. Der Klägerin war es nicht unzumutbar, den angebotenen Arbeitsplatz in E… anzunehmen.

Nach dem Klammerzusatz beruht die Kündigung auch bei Ablehnung des anderen angebotenen Arbeitsplatzes nicht auf einem vom Arbeitnehmer zu vertretenden Grund, wenn dem Arbeitnehmer die Annahme des anderen Arbeitsplatzes nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten billigerweise nicht zugemutet werden kann. Dies war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht der Fall.

a) Unstreitig entsprach die angebotene 3/4 Stelle als Lehrerin an der 8. Regelschule in E… den Kenntnissen und Fähigkeiten der Klägerin. Unter Kenntnissen ist das tätigkeitsbezogene Sach- und Erfahrungswissen zu verstehen (Duden, Großes Universalwörterbuch A-Z, 2. Aufl., Stichwort: Kenntnisse, S. 828). Der Begriff der Fähigkeiten umfaßt die körperliche und geistige Eignung zur Erfüllung der Anforderungen der neuen Tätigkeit (Uttlinger/ Breier/Kiefer/Hoffmann/Pühler, BAT-O, Stand April 1996, S. 222.26b, Soziale Absicherung Hinweis 5; Steinherr/Sponer/ Schwimmbeck, BAT-O, Stand: Januar 1996, 2.4.3, TV soziale Absicherung 2.4.3 Erl. 5).

Damit scheiden persönliche oder familiäre Gründe aus. Auf sie kann der Arbeitnehmer sich nicht berufen, wenn er den angebotenen Ersatzarbeitsplatz ablehnen will (Senatsurteil vom 26. Oktober 1995 – 6 AZR 926/94 – AP Nr. 23 zu § 1 TVG Tarifverträge: DDR). Soweit die Klägerin sich darauf beruft, sie habe eine pflegebedürftige Mutter zu betreuen, ist ihr Vortrag daher unerheblich. Das gleiche gilt im Ergebnis auch, soweit die Klägerin geltend macht, daß sie auf öffentliche Verkehrsmittel mit einer Fahrzeit von ca. 40 Minuten angewiesen sei. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 26. Oktober 1995 (aaO) sogar einen Umzug als zumutbar angesehen, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an einer arbeitstäglichen Bahnfahrt zu dem neuen Arbeitsplatz gehindert ist (zu 1b bb der Gründe). Die Fahrzeit von ca. 40 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Klägerin erst recht zumutbar.

b) Der andere angebotene Arbeitsplatz muß mit dem bisher innegehabten Arbeitsplatz nicht gleichwertig sein. Ein anderer angebotener Arbeitsplatz kann auch ein Teilzeitarbeitsplatz sein (Sponer/Steinherr/Dillinger, MTArb/MTArb-O, Teil IV 1.2, TV soz. Absichg. MTArb-O, S. 6). Bereits aus dem Wortlaut des Klammerzusatzes “Ablehnung eines anderen angebotenen Arbeitsplatzes …” folgt, daß auch ein Teilzeitarbeitsplatz hiervon erfaßt wird.

Dies ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck des Tarifvertrages. In den Vorbemerkungen zum TV soziale Absicherung ist der Grundsatz enthalten, daß Beschäftigungsmöglichkeiten eindeutigen Vorrang gegenüber Entlassungen haben. Dies hat auch das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.

Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann für die Beurteilung der Zumutbarkeit des der Klägerin angebotenen Teilzeitarbeitsplatzes nicht auf die Zumutbarkeits-Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit zurückgegriffen werden. Wie sich aus deren Präambel ergibt, verfolgt die Zumutbarkeits-Anordnung arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen. Demgegenüber geht es bei der Beurteilung des Ausschlußtatbestandes nach § 2 Abs. 5 Buchst. a TV soziale Absicherung um eine einzelfallbezogene Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers.

Ob der angebotene Arbeitsplatz für den Arbeitnehmer zumutbar ist, richtet sich im Einzelfall nach § 242 BGB (Sponer/Steinherr/ Dillinger, aaO, S. 6). Es sind die beiderseitigen berechtigten Interessen zu wahren. Bietet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen nach seinem Arbeitszeitvolumen nicht mehr hinnehmbaren Teilzeitarbeitsplatz an, so kann er sich nicht auf den Ausschlußtatbestand des § 2 Abs. 5 Buchst. a TV soziale Absicherung berufen. So verhält es sich vorliegend jedoch nicht.

Bei dem der Klägerin angebotenen Arbeitsplatz handelte es sich um den einzigen Arbeitsplatz, der ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprach. Ein Vollzeitarbeitsplatz stand nicht zur Verfügung. Allerdings ist die Klägerin in den Gesprächen über ihre weitere Verwendung auf die Möglichkeit hingewiesen worden, daß beim Ausscheiden einer Kollegin eine volle Stelle zur Verfügung stehen würde. Unter diesen Umständen war es ihr nicht unzumutbar, das Arbeitsverhältnis auch im Hinblick auf eine um 25 % geminderte Bruttovergütung fortzuführen.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 344 ZPO.

 

Unterschriften

Dr. Freitag, Dr. Armbrüster, Schmidt, Bengs, P. Stahlheber

 

Fundstellen

Haufe-Index 872490

NZA 1997, 553

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