Interview: Nachhaltigkeitsmanagement in der Wohnungswirtschaft

Der zweite Praxis­bericht der Initiative Wohnen.2050 (IW.2050) ist mehr als eine politische Botschaft – etwa wohnungswirtschaftlichen Akteuren zeigt er, wie Klima­strategien umgesetzt werden können. Welche Optionen es gibt, erklärt Felix Lüter, geschäftsführender Vorstand der Initiative, im Interview.

Felix Lüter ist geschäftsführender Vorstand der Initiative Wohnen.2050 mit knapp 200 Mitgliedern aus der Wohnungswirtschaft. Gleichzeitig ist er Leiter des Kompetenzcenters Nachhaltigkeitsmanagement der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt (NHW). Im Interview gibt er einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Herausforderungen, mit denen sich Wohnungsunternehmen auf dem Weg zu Klimaneutralität und mehr Nachhaltigkeit konfrontiert sehen.

Herr Lüter, was sind derzeit die größten Herausforderungen für die IW.2050-Partnerunternehmen? Wo fehlt es mit Blick auf Klimaneutralität und Dekarbonisierung der Energieversorgung aus Sicht der sozial orientierten Wohnungswirtschaft überall?

Felix Lüter: Die deutsche Wohnungswirtschaft unterstützt ungebrochen das angestrebte Ziel der Klimaneutralität. Um hierbei erfolgreich zu sein, hebt sie alle möglichen Potenziale, blickt über den Tellerrand in andere Länder, forciert Pilotprojekte, intensiviert die Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten, Hochschulen und der SHK-Industrie. Fakt ist aber: Die Transformation einer sozial orientierten Branche in Richtung Klimaneutralität innerhalb von 22 Jahren kann nur mit gewaltigen, gut koordinierten Anstrengungen gelingen. Sie erfordert den transparenten Dreiklang von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Dazu bedarf es einer praxis- und realitätsnahen Herangehensweise – mit kalkulierbaren, wirtschaftlich umsetzbaren Vorschlägen auf der Basis langfristig gültiger und wirksamer gesetzlicher Rahmenbedingungen.

Textgrafik: Sektorübergreifende Zusammenarbeit nötig

Wo besteht Nachholbedarf – seitens der Unternehmen, der Branche und der Politik?

Die Wohnungswirtschaft erwartet von der Politik Planungssicherheit – keine ständigen Ad-hoc-Korrekturen, kurzfristigen Stornierungen von Förderregelungen oder gar abrupte Abbrüche aufgrund von Zielverschärfungen und fehlenden Finanzmitteln. Die Partner der IW.2050 erwarten direkte kontinuierliche finanzielle Förderungen sowie mehr Unterstützung bei den wachsenden Problemen rund um die Energiekrise, die Lieferengpässe bei Anlagen für erneuerbare Energien, dem dafür oftmals fehlenden technischen Know-how sowie dem Fachkräfte- und Handwerker-Mangel.

Kann die Wohungswirtschaft die hochgesteckten Ziele zur Reduktion der Treibhausgase oder gar eine Klima­neutralität überhaupt in der verbliebenen Zeitspanne erreichen?

Wir müssen klimaneutral werden – so schnell, wie möglich! Ansonsten befördert uns der Klimawandel wirtschaftlich und gesellschaftlich ins Off. Ob jedoch die Klimaneutralität in den regional, national und international aufgerufenen Zeitkorridoren realwirtschaftlich erreicht werden kann, ist vor allem auch eine Frage der relevanten Parameter. Man muss ganz klar sagen: Die Entwicklungen des Jahres 2022, insbesondere im Förderbereich, lassen die zeitlichen Ziele deutlich unrealistischer werden. Wir brauchen eindeutig mehr und nicht weniger Unterstützung, um sozialverträgliche Mieten und die gigantischen Investitionsbedarfe unter einen Hut zu bringen.

2020 haben die der IW.2050 angeschlossenen Unternehmen einen Zielkorridor für 2050 festgelegt, der später auf 2045 vorgezogen wurde: 0 bis 12 kg CO2/m2 pro Jahr. Das unterstellt bereits, dass Klimaneutralität bis zum politisch gewünschten Zeitpunkt kaum zu schaffen ist. Mir ist kein Unternehmen bekannt, das sagt: Wir schaffen die Null bis 2045! Fest steht: Wer in der Wohnungswirtschaft nicht bis Mitte dieses Jahrzehnts auf Zielkurs ist und keinen fertigen Aktivitätenplan vor sich liegen hat, dem wird es kaum noch möglich sein, seine individuellen Klimaziele in akzeptablen Zeiträumen zu erreichen. Wir müssen heute bereits bei jeder Investition schon 2045 mitdenken, um sicherzustellen, dass wir zielführend handeln und investieren.

Ein Investitionszyklus von 30, 40 Jahren auf der einen und ständig neue Einspar­anforderungen und Förder­systematiken auf der anderen Seite passen ja nicht zusammen ... Wie schaffen Sie es, als Branche und Schlüssel­akteure noch besser gehört zu werden?

Laut sein, nicht aufgeben, mehr Mitstreiterinnen und Mitstreiter suchen, immer wieder Fakten aus der unternehmerischen Praxis vorlegen und Diskrepanzen aufzeigen – wie etwa das Bermuda-Dreieck Mietendeckelung, Wegfall von Direktzuschüssen und Verschärfung gesetzlicher Regelungen.

Den Finger in die Wunde zu legen, aber auch zu informieren und Möglichkeiten aufzuzeigen, war und ist die zentrale Intention unseres nunmehr zweiten Praxisberichts, an dem sich 68 unserer Partnerunternehmen sowie zahlreiche Verbände beteiligt haben. Nur die Offenlegung des Erreichten auf der Arbeitsebene – bereits abgeschlossene Klimabilanzierungen und erstellte Klimastrategien – und die Schilderung der immer noch bestehenden und neu hinzugekommenen Problemsituationen können bei den Entscheidern in der Politik Verständnis für die prekäre Situation der Wohnungswirtschaft schaffen. Wir sind froh über das große Engagement beim aktuellen Praxisbericht und freuen uns, dass der GdW und seine Regionalverbände ihn bei ihren Gesprächen auf allen politischen Ebenen als Faktenquelle einsetzen.

Stichwort Planungshorizont, Verlässlichkeit, Förderkulisse: Kann die Politik noch als verlässlicher Akteur gelten?

Leider nein. Die diesjährigen politischen Ad-hoc-Entscheidungen haben dramatisch offengelegt, dass die besondere Sachlage dieser Branche offenbar zumindest im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz nicht verstanden wird. Die Wohnungswirtschaft ist nicht gleichzusetzen mit einem Industriezweig und nicht mit der restlichen Immobilienwelt. Sie übernimmt vielmehr gesellschaftliche Verantwortung und Aufgaben, indem sie Wohnraum schafft und dauerhaft erhält – gerade für Menschen mit geringem Einkommen. Parallel dazu nimmt sie vielfältige soziale Aufgaben in den Quartieren wahr. Selbst trotz sinkender Bindungen ist die Mehrzahl der „freien“ Sozialwohnungen in Ballungsräumen immer noch bis zur Hälfte günstiger als die Marktmieten.

Wie oft haben die in der IW.2050 vereinten Unternehmen ihre Strategien schon umschreiben müssen?

Wir empfehlen den regelmäßigen Abgleich der Strategie mit der Realität und entsprechende Anpassungen. Größere Fortschreibungen nimmt man dann in der Regel circa alle drei Jahre vor. Ich gehe davon aus, dass viele Partner bereits in der Erarbeitungsphase Anpassungen an die dramatisch veränderten Rahmenbedingungen vorgenommen haben.

Die dem Praxisbericht vorausgegangene Umfrage bei den Partnern ergab, dass 24 % der Befragten ihre Klimastrategie bereits vor 2022 abgeschlossen hatten und 40 % den Abschluss noch 2022 planen. Gerade bei der Gruppe der lobenswerten „Frühstarter“ dürfte es mehrfache Überarbeitungen und Anpassungen gegeben haben. Die NHW nimmt derzeit die erste große Fortschreibung seit 2019 vor.

Stellen die politischen Ziele oder ihre Kurzfristigkeit und Realisierbarkeit die eigentliche Herausforderung dar?

Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist sachlich völlig legitim. Es muss nur auch realwirtschaftlich erreichbar sein. Es sind die Zeitläufe und die prekäre Finanz- und Personal­situation, die den Unternehmen zu schaffen machen. Mehrfache massive Ad-hoc-Veränderungen der politischen Rahmensetzungen binnen eines Jahres konterkarieren jeden sinnvollen Planungsprozess – egal ob im Neubau oder in der Bestandsentwicklung – und vernichten den Wert bereits fortgeschrittener Planungen. Das Ganze wird verschärft durch die Energiekrise, zunehmende Lieferengpässe und stetig steigende Materialpreise.

Warum sollten die Wohnungsunternehmen weiter am Thema arbeiten?

Ganz einfach: Weil wir den Mut nicht verlieren dürfen und weil es um unsere Zukunft und die der nachfolgenden Generationen geht. Jedes Jahr, das wir verlieren, ist nicht mehr einzuholen! Je länger wir brauchen, desto teurer wird es. Vor allem lassen sich die sozialen, ökologischen und ökonomischen Effekte der Klima­veränderungen jenseits von 2 °C nicht mehr beherrschen. Insofern bleibt die Botschaft bestehen: Wir müssen so schnell wie möglich auf eine CO2-Null kommen!

Auf die Politik schimpft man schnell. Hat die Immobilienwirtschaft die Klimakrise vielleicht nicht früh genug erkannt? Hat sie Zeit verschenkt und Initiativen wie  die IW.2050 zu spät gegründet?

Das ist – für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft – sicher nicht zu leugnen. Seit mindestens vier Jahrzehnten drängt die Wissenschaft zur Dekarbonisierung. Hätte es die Diskussionen, die wir heute führen, vor zehn oder gar zwanzig Jahren gegeben, hätten wir zumindest mehr Zeit gehabt. Das hätte aber schon damals riesige Summen erfordert und wäre obendrein in der Gesellschaft auf wenig fruchtbaren Boden gefallen. Denn – Hand aufs Herz: Die Klimakrise war einfach zu weit weg, die dramatischen Auswirkungen psychologisch nicht vorstellbar, ein entschlossenes Vorgehen in der erforderlichen Breite nicht durchsetzbar. Selbst heute kämpfen wir gesellschaftlich noch deutlich mit der kognitiven Dissonanz. Zudem ist unsere Branche durch die Eigentümerschaft eng eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge. Alleingänge funktionieren nur mit breiter Unterstützung von Politik und Gesellschaft. Zwar gab es immer wieder Vorzeigeprojekte, deutliche Ansagen und Neuregelungen seitens der Politik blieben allerdings aus. So haben sich Hersteller, Bauindustrie, Finanzierer und Wohnungsunternehmen nicht in der Serie, sondern nur in Einzelprojekten (um)orientiert.

Wie hat man sich die Zusammenarbeit in der IW.2050 vorzustellen?

Zusammenarbeit wird in der Branche schon immer großgeschrieben. Für diese enge Kooperation ist die langjährige intensive Verbandsarbeit der beste Beleg. Eine etwaige Wettbewerbssituation sehe ich nicht. Im Vordergrund stehen Know-how-Austausch und ein von allen nutzbarer, stetig wachsender Wissens-Pool. Der Leidensdruck ist – ehrlich gesagt – groß genug, um wirklich mit offenem Visier an Lösungen zu arbeiten und die eigenen Herausforderungen klar zu benennen.

Können große Wohnungsunternehmen von kleinen profitieren und umgekehrt? Wie stellen Sie die Übertragbarkeit her?

Bei Fragen der angewandten Methodik und bei den von uns entwickelten Instrumenten zu Bilanzierung, Technik und Finanzierung ist die Größe nicht entscheidend. Lediglich bei Pilotprojekten haben oftmals die größeren Unternehmen mehr vorzuweisen. Durch den eingerichteten Wissenspool und rund 30 Online-Veranstaltungen pro Jahr profitieren jedoch alle gleichermaßen. Wir haben alleine im ersten Halbjahr 2022 rund 1.700 Teilnehmer online erreicht.

Was sind die aktuell wichtigsten Handlungsfelder der Wohnungsunternehmen: Klimapfade, grüne Energieversorgung, Sektorkopplung, Graue Energie, Baukonzepte und Sanierungsstrategien, Kreislaufwirtschaft ...?

Eigentlich alle! Mit Blick auf die aktuelle Lage würde ich Klimastrategien und -pfade als Basis für jegliches Handeln ganz oben platzieren, gefolgt von Sanierungsstrategien und Konzepten wie serielles Sanieren und Bauen.

Bei der grünen Wärme sind die Unternehmen nicht selten von Versorgern abhängig, die oft noch nicht so weit oder durch externe Faktoren wie Fachkräftemangel eingeschränkt sind. Das Gleiche gilt für die Kreislaufwirtschaft mit ihrer engen Verbindung zum Thema Graue Energie/Graue Emissionen. Neue gesetzliche Regelungen rücken diese Themen nun stark in den Fokus. Anfang 2022 haben wir dazu eine Pioniergruppe ins Leben gerufen, die im Laufe des Jahres mehrere Schulungen abhielt – inklusive eines Workshops zur Anwendung des eLCA-Tools.

Müssen Wohnungsunternehmen mehr kooperieren, Aufträge poolen, Standards reduzieren, weniger oder kleiner und einfacher bauen …?

Hinter derartigen Ideen steckt sicherlich Potenzial. Aber auch der Gesetzgeber muss neue Rahmenbedingungen schaffen und alte Regularien ändern! So ist die Genehmigungslage bei baugleichen Objekten, Produkten und Serien-Maßnahmen zu vereinfachen. Ferner ist die Harmonisierung von Bund- und Länder-Vorschriften wichtig. Hier bestehen Diskrepanzen, die stringentes Handeln schlichtweg aushebeln.

Kann das Prinzip gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, wie es die IW.2050 lebt, ein Modell sein, wie die Immobilienwirtschaft weniger professionelle Akteure, wie Klein- und Privateigentümer, bei der klimagerechten Erneuerung der Gebäude unterstützen kann?

Auf jeden Fall. Den Quartiersansatz eigentümerübergreifend zu denken, ergibt Sinn. Werden neben eigenen Beständen ganze Quartiere und die dort ansässigen verschiedenen Eigentümer und Nutzungstypologien einbezogen, kann die Produktion und lokale Nutzung erneuerbarer Energien besser ausbalanciert werden. So haben zum Beispiel Schulen ihre Energiebedarfe eher in Zeiten, in denen Wohnungsbestände weniger Energie benötigen.

Zum kostenlosen Praxisbericht der IW.2050

Die Initiative Wohnen.2050 – aus der Branche für die Branche

Als bundesweiter Zusammenschluss unterstützt die IW.2050 die Wohnungswirtschaft dabei, ihren Beitrag zur Einhaltung der im Pariser Abkommen definierten Klimaziele zu leisten: die Erderwärmung auf deutlich unter 1,5 Grad abzusenken. Sie fördert daher Entwicklung und Erarbeitung praktikabler Lösungen zum Erreichen der Klimaneutralität. Unter den bislang 183 Unternehmenspartnern sind acht der zehn größten Wohnungsunternehmen Deutschlands. Insgesamt vereinen die Gesellschaften über 2,1 Mio. Wohnungen, die bis 2045 klimaneutral entwickelt werden sollen; in einigen Bundesländern und Städten sogar bis 2035. Weitere elf institutionelle Partner sind die EBZ Business School, der GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen und der Großteil seiner Regionalverbände.

Mehr Informationen: www.iw2050.de

Dieses Interview erschien im Fachmagazin "DW Die Wohnungswirtschaft", Ausgabe 1/2023.