Digitaler Zwilling: der Fixstern im Immobilienkosmos

Das digitale Zeitalter mit all seinen Softwarelösungen und Planungstools rüttelt an den Grundfesten der Immobilienwirtschaft – und nimmt sie oft Stein für Stein auseinander. Das muss keine Schwäche sein, wenn das Potenzial neuer Technologien genutzt wird. Ein Plädoyer für den digitalen Zwilling.

Die Immobilienwirtschaft lässt sich in verschiedenen Dimensionen strukturieren. Die geografische Perspektive liegt in der Natur der Sache, hat doch jede Immobilie ihr festes Grundstück. Daraus ergeben sich Rückschlüsse auf die Mikro- und Makrolage, aus denen verschiedene demografische oder preisliche Entwicklungen abgeleitet werden können. Eine weitere Dimension wäre die arbeitsteilige: Hier unterschiedet man die verschiedenen Bereiche des Lebenszyklus der Immobilie; also etwa die Projektentwicklung vom Asset-, vom Property-, vom Facility Management und so weiter.

Für die meisten Leser dürfte all das trivial sein. Warum also diese Einführung? Was in immobilienwirtschaftlichen Zusammenhängen so selbstverständlich ist, dass es kaum explizit erwähnt werden muss, fehlt im Digitalen noch fast komplett.

Sphäre ohne Orientierung

Die Folge? Ohne ein vergleichbares Koordinatensystem auch in der digitalen Sphäre fehlt die Orientierung. Verschiedene Akteure arbeiten engagiert an Teillösungen, die die Effizienz von Prozessen erhöhen sollen. Bislang fehlt jedoch die Kongruenz: Die einzelnen Lösungen passen nicht zueinander. Um eine Vernetzung der Anwendungen herzustellen, ist entweder ein unverhältnismäßig hoher Mehraufwand erforderlich oder aber es drohen die viel kritisierten Insellösungen und Medienbrüche.

Viele Unternehmen neigen dazu, sich Kompetenz in Form von Softwarelösungen einzukaufen und lediglich Einzelschritte ihrer Wertschöpfungskette zu digitalisieren. So gaben 31 Prozent der befragten Immobilienunternehmen in der jüngsten Digitalisierungsstudie von ZIA und EY Real Estate an, bei der Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategie auf Startups zu setzen. Dieses Engagement ist begrüßenswert.

Ohne einen zugrunde liegenden Orientierungsrahmen droht jedoch die Gefahr, dass man schnell den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht – beziehungsweise eine umfassende Digitalisierung vor lauter Insellösungen vermissen lässt.

Intuitive digitale Infrastruktur

Dabei ist ein passender Orientierungsrahmen vielleicht schon älter als der jüngste Digitalisierungsschub der Immobilienwirtschaft. Er stammt aus der Planung, dem viel diskutierten, aber noch zu wenig angewendeten Building Information Modeling (BIM).

Der sogenannte digitale Zwilling (oder auch Digital Twin) hat das Potenzial, zum Fixstern der digitalen Sphäre der Immobilienwirtschaft aufzusteigen. Wie in der geografischen und der arbeitsteiligen Dimension steht das Gebäude selbst im Mittelpunkt. Was hinzukommt: Ein digitaler Gebäudezwilling ist die digitale Anwendung in Form der Nachbildung eines vertrauten Gegenstands. Eine intuitiv begreifbare digitale Infrastruktur, die ein CEO im Büro vor dem PC genauso versteht wie ein Facility Manager vor Ort mit seinem Tablet, ohne dass beide Informatik studiert haben müssen.

Zwilling als Datenheimat

Der digitale Zwilling bietet eine Heimat für alle immobilienrelevanten Informationen: Planungs-, Vertrags- und Echtzeitdaten zum Gebäudezustand oder der technischen Gebäudeausrüstung können an dieser zentralen Stelle zusammenfließen. Diese können für schier unendlich viele Anwendungsfelder genutzt werden. Jede Einzellösung kann sich am zentralen Element – dem digitalen Zwilling – orientieren. Datensilos werden so von vornherein vermieden. Ein gewichtiges Argument in Zeiten, in denen immer mehr Entscheidungen datengetrieben getroffen werden.

56 Prozent der Befragten der bereits genannten Studie stimmten der Aussage zu, Datenanalysen zu nutzen, um Unternehmensentscheidungen zu treffen oder zu unterstützen. Über das Zusammenspiel der einzelnen Lösungen hinaus müssen auch die Daten kompatibel und übertragbar sein.

Die von der gif, der Gesellschaft für immobilienwirtschaftliche Forschung, angestoßene Standardisierung der Daten in der Immobilienwirtschaft ist in diesem Kontext eine sehr begrüßenswerte Entwicklung.

Zwerge auf Riesenschultern

Immer wieder hört und liest man so auch die fast einhellige Meinung, dass die Immobilienwirtschaft bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Auf den ersten Blick mag diese Selbsterkenntnis ernüchternd wirken – jedoch bietet uns die Situation auch einen Vorteil. Wir können die Erfahrungen anderer Industrien nutzen, ohne deren Fehler wiederholen zu müssen. Wir können den Prozess mit mehr Weitblick und einem größeren Erfahrungsschatz gestalten als viele Branchen vor uns.

Die bekannte Analogie der "Zwerge auf den Schultern von Riesen" bringt diese Form des Fortschritts auf den Punkt. Es ist jetzt an uns allen – etablierten Unternehmen wie PropTechs –, diese positiven Voraussetzungen nicht ungerichtet verpuffen zu lassen. Das Rüstzeug haben wir, und an Engagement mangelt es der Branche noch weniger.

Ein Orientierungsrahmen für die Digitalisierung der Immobilienwirtschaft aber ist dringend geboten. Denn ohne ihn werden wir noch viel Engagement in die Entwicklung der vielleicht besten Teillösungen stecken. Doch es wäre schade, wenn diese gar nicht oder nur mit viel Verschleiß in eine digitale Immobilienwirtschaft mündeten. Der digitale Zwilling ist der logische Fixstern in diesem zu schaffenden Universum. Und er erklärt sich selbst, schließlich ist er dem Gebäude in all seinen Facetten nachempfunden.


Der Beitrag erschien im Magazin "Immobilienwirtschaft", Ausgabe 02/2020.


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Schlagworte zum Thema:  BIM, Digitalisierung, Immobilienwirtschaft