Entscheidungsstichwort (Thema)

Akten sind grundsätzlich bei dem mit der Streitsache befaßten Gericht einzusehen

 

Leitsatz (NV)

Die Einsichtnahme in die dem Gericht vorliegenden Akten ist im Regelfall bei Gericht zu gewähren. Die dadurch bedingten "normalen" Unbequemlichkeiten und Zeitverluste müssen vom Kläger grundsätzlich hingenommen werden. Ausnahmen hiervon sind auf eng begrenzte Sonderfälle beschränkt.

 

Normenkette

FGO § 78 Abs. 2 S. 1, §§ 102, 128

 

Tatbestand

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben im finanzgerichtlichen Verfahren beantragt, die dem Gericht vorliegenden Akten an Amtsstelle des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt -- FA --) ein sehen zu können. Der Vorsitzende des angerufenen Senats des Finanzgerichts (FG) hat diesen Antrag mit Beschluß vom 28. September 1993 abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Akten seien grundsätzlich bei dem mit der Streitsache befaßten Gericht einzusehen. Eine Versendung der Akten sei nur in solchen Sonderfällen geboten, in denen das Interesse der Beteiligten an einer Erleichterung der Akteneinsicht überwiege. Dies sei hier nicht der Fall. Wenn der Prozeßbevollmächtigte in sämtlichen Massenverfahren, in denen nach dem Grundsatzbeschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8. Mai 1992 III B 138/92 (BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673) die Untätigkeitsklage rechtsmißbräuchlich erhoben sei, Akteneinsicht begehre, sei "der Klägerseite ein sachlich überflüssiger Zeit- und Kostenaufwand für die Einsichtnahme bei Gericht zumutbar". Da der Prozeßbevollmächtigte selbst die vor, zwischen und nach den von ihm wahrgenommenen Sitzungsterminen bestehende Möglichkeit einer zeit- und kostensparenden Akteneinsicht beim FG nicht nutze, beharre er zweckwidrig auf einer Akteneinsicht beim FA. Aufgrund der vom Prozeßbevollmächtigten "bei allen rechtsmißbräuchlich weiterbetriebenen Vorratsklagen eigennützig verfolgten Prozeßverschleppungstaktik erschiene auch höchstens im Regreßfall ein persönliches Klägerinteresse an einer Akteneinsicht -- gleich wo -- ohne weiteres glaubhaft". Daß es dem Prozeßbevollmächtigten nicht einmal wirklich um einen Einblick in die Akten gehe, habe er schon bei etlichen Parallelsachen durch seine einschlägige Weigerung in der Beschwerdeinstanz offenbart (Bezugnahme auf BFH-Beschluß vom 11. August 1992 III B 198/92, BFH/NV 1993, 312).

Der hiergegen eingelegten Beschwerde hat der zuständige Senat des FG "aus den Gründen des Ablehnungsbeschlusses" nicht abgeholfen. Weiterhin hat das FG die Klage mit Urteil vom 22. November 1993 als unzulässig abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. Hiergegen haben die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die der Senat als unbegründet zurückgewiesen hat.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Die Entscheidung des FG ist mit der Beschwerde anfechtbar (§ 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Entscheidungen über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozeßleitenden, nicht mit der Beschwerde anfechtbaren Verfügungen i. S. des § 128 Abs. 2 FGO.

Nach den BFH-Beschlüssen vom 8. Mai 1992 III B 175/92 (BFH/NV 1993, 175) und vom 30. November 1992 X B 147/92 (BFH/NV 1993, 665) fehlt einer Beschwerde gegen die Verweigerung der Akteneinsicht durch das FG das Rechtsschutzinteresse, wenn das FG die Instanz durch eine Entscheidung in der Sache abgeschlossen hat und wegen eines deswegen eingelegten Rechtsmittels die Akten dem BFH vorliegen. Diese Entscheidungen betrafen den Fall, daß die Kläger mit der Beschwerde klären wollten, ob dem FG insoweit "ein Verfahrensfehler im Hinblick auf eine ergangene Sachentscheidung" unterlaufen ist. Ob dies auch im Streitfall das einzige Ziel der Kläger ist, kann dahingestellt bleiben.

2. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO haben die Beteiligten nur den Anspruch, die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einzusehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen zu lassen. Die Entscheidung über die Versendung, Aushändigung oder Übersendung der Akten zum Zwecke der Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist dagegen eine Ermessensentscheidung (vgl. BFH-Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Im Beschwerdeverfahren ist der BFH nicht lediglich auf eine rechtliche Überprüfung des Ermessens (§ 102 FGO) beschränkt; er kann insoweit eigenes Ermessen ausüben (vgl. BFH- Beschlüsse vom 31. August 1993 XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187; vom 6. September 1994 IV B 96/93, BFH/NV 1995, 519, unter 2. c).

Die Einsichtnahme ist -- vor allem wegen der Gefahr des Verlustes der Akten und im Interesse einer ständigen Verfügbarkeit -- im Regelfall bei Gericht zu gewähren. Die dadurch bedingten "normalen" Unbequemlichkeiten und Zeitverluste müssen grundsätzlich hingenommen werden (ständige Rechtsprechung, ausführlich Beschluß in BFH/NV 1994, 187, 189; siehe ferner Senatsbeschluß vom 14. Dezember 1992 X B 70/92, BFH/NV 1994, 36, m. w. N. der Rechtsprechung). Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sich aber nach ständiger, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligter Rechtsprechung auf eng begrenzte Sonderfälle (BFH-Beschluß vom 16. September 1994 I B 180/93, BFH/NV 1995, 524; BVerfG-Beschluß vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 78, Rechtsspruch 10).

Die Rechtsprechung hat eine Akteneinsicht im Beschwerdeverfahren generell abgelehnt, wenn das Rechtsmittel unzulässig ist und das Gericht gehindert ist, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Die Akten sind dann unter keinem Gesichtspunkt geeignet, dem Rechtsschutz der Kläger zu dienen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. Oktober 1990 X B 119/90, BFH/NV 1991, 331; 16. Juli 1991 III S 2, 3/91, BFH/NV 1992, 191; vom 21. Mai 1993 VIII R 31/93, BFH/NV 1994, 48, unter 2.; vom 19. Mai 1994 VIII B 26/94, BFH/NV 1994, 894; vom 29. März 1994 VII B 58/94, BFH/NV 1995, 58, unter 3.; vom 18. März 1994 VIII B 20/94, BFH/NV 1995, 144).

Ein Sonderfall kann vorliegen, wenn die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind und es dem Prozeßbevollmächtigten deshalb innerhalb der Dienstzeiten der Mitarbeiter des FG auch bei intensivem Bemühen voraussichtlich nicht möglich sein wird, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt zu informieren (Beschluß in BFH/NV 1995, 524).

Im Streitfall sind derartige oder andere Besonderheiten nicht gegeben. Die vom FA dem FG vorgelegten Steuerakten sind nicht umfangreich oder unübersichtlich. Sie bestehen zum weitaus überwiegenden Teil aus Unterlagen, die bereits im Besitz der Kläger oder ihres Prozeßbevollmächtigten sind (z. B. Bescheide, Schriftverkehr mit dem FA). Es ist für einen fachkundigen Prozeßbevollmächtigten ohne Schwierigkeiten möglich, sich innerhalb weniger Minuten über den Akteninhalt zu informieren und die Blätter der paginierten Akten zu notieren, von denen er Kopien benötigt. Der Senat teilt die -- seitens der Kläger im Beschwerdeverfahren unwidersprochen gebliebene -- Auffassung des FG, daß es daher dem Prozeßbevollmächtigten ohne weiteres möglich und zumutbar ist, die Akten anläßlich der persönlichen Wahrnehmung von Gerichtsterminen bei der Geschäftsstelle einzusehen.

 

Fundstellen

BFH/NV 1996, 51

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