Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Akteneinsicht

 

Leitsatz (NV)

1. Die Entscheidung darüber, ob einem Prozeßbevollmächtigten die Akten zur Einsicht in seinen Geschäftsräumen überlassen oder zumindest an ein nahegelegenes Gericht übersandt werden, liegt im Ermessen des FG. Bei der Ausübung des Ermessens sind die für und gegen eine Aktenübersendung sprechenden Umstände abzuwägen.

2. Nach § 78 FGO ist die Einsichtnahme der Akten in der Geschäftsstelle des FG die Regel. Gleiches gilt, wenn das FG das FA im Wege der Amtshilfe (§ 13 FGO) mit der Durchführung der Akteneinsicht beauftragt.

3. Die damit verbundenen Nachteile rechtfertigen keine Ausnahme, wenn die Akten ständig verfügbar sein müssen und wegen ihres Umfangs nur mit besonderen Schwierigkeiten und Kosten versandt werden könnten.

 

Normenkette

FGO § 78

 

Tatbestand

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine von rund 600 ehemaligen Gesellschaftern der X GmbH atypisch stille Gesellschaft (X). Sie erhob -- ebenso wie 137 weitere Gesellschafter, von denen 95 durch die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vertreten werden -- gegen die im Anschluß an eine Steuerfahndungsprüfung geänderten Bescheide Klage; 17 Klagen sind bereits seit 1986 anhängig.

Das Finanzgericht (FG) zog die Akten der Steuerfahndungsstelle beim Finanzamt (FA) Y sowie der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Z, die mehrere hundert Aktenordner -- u. a. die im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren beschlagnahmten Akten der X, der Klägerin und ihrer Prozeßbevollmächtigten -- umfassen, gemäß § 86 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit der Maßgabe bei, daß es die Akten zunächst an den Beklagten und Beschwerdegegner (FA) übersenden ließ, um dort den Klägern und ihren Vertretern im Wege der Amtshilfe Einsicht in die gesamten den Streitfall betreffenden Akten gewähren zu können.

Die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin beantragten wiederholt, ihnen die Akten des beklagten FA, der Steuerfahndungsstelle sowie der Staatsanwaltschaft (einschließlich sämtlicher beschlagnahmter Akten) zur Einsicht in ihre Kanzlei, hilfsweise an eine Außenstelle eines anderen Finanzgerichts (FG), zu übersenden. Der Vorsitzende des Spruchkörpers des FG lehnte die Anträge u. a. mit der Begründung ab, er habe dem Antrag eines anderen Prozeßbevollmächtigten, die Akten an das FA oder Amtsgericht seines Geschäftsortes zu übersenden, wegen des Umfangs der Akten und der Vielzahl der einsichtsberechtigten Beteiligten nicht entsprechen können; eine zügige Fortsetzung der bereits begonnenen Vorbereitungsarbeiten für die mündliche Verhandlung sei nicht möglich, wenn allen Einsichtsberechtigten die Akten an einen ihnen passenden Ort übersandt würden.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin, der das FG nicht abgeholfen hat. Die Klägerin macht geltend, eine auf die Dienstzeiten beschränkte Akteneinsicht im FA sei unzumutbar, weil die Einsicht wegen des Umfangs der Akten, die im Hinblick auf die zahlreichen Beschlagnahmen auch ungeordnet seien, langwierig sei. Diese Besonderheiten machten eine Übersendung der Akten in die Kanzlei zwingend notwendig.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Die Entscheidung des FG ist mit der Beschwerde anfechtbar (§ 128 Abs. 1 FGO). Entscheidungen über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozeßleitenden Verfügungen i. S. des § 128 Abs. 2 FGO (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475).

2. Die Beschwerde ist unbegründet.

Das FG durfte im Streitfall die Versendung der Akten ablehnen.

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO haben die Beteiligten nur den Anspruch, die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einzusehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen zu lassen. Die Entscheidung über Versendung, Aushändigung oder Übersendung der Akten zum Zwecke einer Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist dagegen eine Ermessensentscheidung (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; vom 29. April 1987 VIII B 4/87, BFH/NV 1987, 796; vom 25. Januar 1990 VIII B 39/89, BFH/NV 1991, 99).

a) Bei dem Gebrauch des Ermessens ist der vom Gesetzgeber in § 78 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten. Danach ist den Beteiligten grundsätzlich zuzumuten, sich zur Ausübung ihres Rechts auf Akteneinsicht zum Gericht zu begeben; entsprechendes gilt, wenn das FG Akten gemäß § 86 FGO beizieht und sich -- wie hier -- im Wege der Amtshilfe (§ 13 FGO) an das FA wendet, weil dessen Unterstützung bei der Durchführung der Akteneinsicht zweckmäßig ist (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1991, 99 unter 3.). Ausnahmen von diesem Grundsatz können sich daraus ergeben, daß aufgrund besonderer Umstände eine Einsichtnahme in die Akten in der Geschäftsstelle (hier: dem FA) undurchführbar oder für die Beteiligten unzumutbar ist (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1982, 77). Immer muß es sich jedoch um einen Sonderfall handeln. Ein solcher ist nicht etwa schon im Hinblick auf die mit jeder Einsichtnahme bei Gericht (hier: dem FA) verbundenen Zeitaufwendungen, Unbequemlichkeiten oder wirtschaftlichen Nachteilen mehr oder minder großen Gewichts gegeben. Andernfalls würde das vom Gesetzgeber gewollte Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil verkehrt (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; in BFH/NV 1987, 796; in BFH/NV 1991, 99).

Diese Grundsätze gelten insbesondere auch für die Übersendung der Akten in die Kanzlei eines Prozeßbevollmächtigten. Eine dem § 100 Abs. 2 der Verwaltungs gerichtsordnung (VwGO) entsprechende Vorschrift, daß nach dem Ermessen des Vorsitzenden die Akten dem bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden können, fehlt in der FGO. Die Regelung ist vom Gesetzgeber bewußt nicht aufgenommen worden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. August 1978 IV B 20/77, BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677; in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Hieraus folgt nach ständiger Rechtsprechung des BFH, daß die Aktenübersendung in die Wohnung oder in das Büro des Prozeß bevollmächtigten auch bei einer großen Entfernung zum FG auf eng begrenzte Sonderfälle zu beschränken ist (z. B. BFH-Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; in BFH/NV 1987, 796; in BFH/NV 1991, 99).

b) Bei der Ausübung des Ermessens sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen. Hierzu gehören das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang (Vermeidung von Aktenverlusten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten und Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten) einerseits und das private Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten bei Gewährung der Akteneinsicht an der vom Beteiligten oder seinem Prozeß bevollmächtigten gewünschten Stelle andererseits (BFH-Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; vom 21. November 1991 VII B 55/91, BFH/NV 1992, 403).

c) Nach diesen Grundsätzen hält es der erkennende Senat in Ausübung eigenen Ermessens für gerechtfertigt, die Prozeßbevollmächtigten auf die Möglichkeit einer Akteneinsicht im FA bzw. -- nachdem inzwischen offenbar Räumlichkeiten für die Unterbringung der Akten im Gericht bereitgestellt sind -- in der Geschäftsstelle des Gerichts zu verweisen.

Das dienstliche Interesse des FG an der Verfügbarkeit der Akten ist vorrangig gegenüber dem Interesse der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, sich den Zeitaufwand und die Kosten für eine Fahrt nach D und einen mehrtägigen Aufenthalt zur Akteneinsicht durch Übersendung der Akten zu ersparen. Der Senat verkennt nicht, daß eine Akteneinsicht in D mit Erschwernissen verbunden ist. Gewichtiger erscheint indes der Umstand, daß die Akten ständig bei Gericht benötigt werden. Die Akten mußten schon deshalb ständig verfügbar sein, um einer Vielzahl von einsichtsberechtigten Beteiligten Akteneinsicht gewähren zu können. Die begehrte Aktenübersendung würde das Ermessen des FG ggf. aufgrund einer Selbstbindung dahingehend einschränken, daß es entsprechenden Begehren einer Vielzahl von Einsichtsberechtigten stattgeben müßte; die Akten würden dem FG dann für längere Zeit entzogen. Dies erscheint angesichts des Umstands, daß die Streitsache wegen der 17 bereits im Jahre 1986 eingegangenen Klagen in besonderem Maße förderungsbedürftig ist, nicht vertretbar. Denn die inzwischen aufgenommenen Vorbereitungsarbeiten für die mündliche Verhandlung sind wegen der Schwierigkeiten der Sache in tatsäch licher Hinsicht und der notwendigen Beiladung einer Vielzahl von Gesellschaftern, die zudem in unterschiedlichen Zeiträumen an der X beteiligt waren, erkennbar langwierig. Im Streitfall handelt es sich im übrigen um umfangreiche Akten, die, soweit sie von der Steuerfahndungsstelle und der Staatsanwaltschaft beigezogen wurden, mit einem Lkw zum FA transportiert werden mußten; bei der Interessenabwägung ist deshalb auch zu berücksichtigen, daß die gesamten Akten nur mit besonderen Schwierigkeiten und Kosten versandt werden könnten (vgl. hierzu BFH-Beschluß in BFH/NV 1992, 403 unter 2. c).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420222

BFH/NV 1995, 519

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