Leitsatz

1. Ein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist nicht allein deshalb zu verneinen, weil das behinderte Kind einer Erwerbstätigkeit nachgeht.

2. Ist das behinderte Kind trotz seiner Erwerbstätigkeit nicht in der Lage, seinen gesamten Lebensbedarf zu bestreiten, hat das FG unter Würdigung der Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden, ob die Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt in erheblichem Maße (mit‐)ursächlich ist.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG

 

Sachverhalt

Die 1980 geborene Tochter (T) der Klägerin ist seit ihrer Geburt gehörlos. Der GdB beträgt 100. T erlernte den Beruf der Beiköchin. Seit Januar 2001 war sie als Köchin mit einer Arbeitszeit von 30 Wochenstunden tätig. Der Bruttoarbeitslohn belief sich auf ca. 16.000 DM. Ab Januar 2002 bezog sie Insolvenz- und Arbeitslosengeld und arbeitete dann ab August 2002 als Küchenhilfe in einer Fleischerei. Der Bruttoarbeitslohn betrug 2003 7.800 EUR bei einer Arbeitszeit von 25 Wochenstunden. Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeld ab.

Das FG des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 6.5.2008, 4 K 397/04, Haufe-Index 2051094, EFG 2008, 1898) wies die Klage ab. Der Arbeitslohn decke zwar nicht den gesamten Lebensbedarf der T. Dafür sei aber nicht ihre Behinderung ursächlich, sondern das geringe Lohnniveau der Beiköche.

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies die Sache zurück. Im zweiten Rechtsgang hat das FG nach den Vorgaben des BFH erneut zu würdigen, ob T sich wegen ihrer Behinderung nicht selbst unterhalten konnte.

 

Hinweis

1. Für Kinder, die sich wegen ihrer vor dem 25./­27. Lebensjahr eingetretenen Behinderung nicht selbst unterhalten können, wird "lebenslang" Kindergeld gewährt. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt wird nach dem Monatsprinzip ermittelt; Sonderzuwendungen, Gratifikationen u. Ä. sind auf den Zuflussmonat und die Folgemonate aufzuteilen (BFH,Urteil vom 24.8.2004, VIII R 83/02, BFH/NV 2004, 1717, BFHE 207, 244).

2. Anspruchsbegründend wirkt nur die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt. Die Arbeitslosigkeit eines Kindes kann jedoch auch auf anderen Ursachen beruhen (z.B. ungünstige Arbeitsmarktlage, mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten). Die Behinderung muss nicht die alleinige, aber mindestens eine erhebliche Mitursache dafür sein, dass das Kind objektiv außerstande ist, den Lebensbedarf durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Dies kann auch dann zutreffen, wenn das Kind zwar aus eigenem Verschulden arbeitslos bleibt, aber zu einer hinreichend entlohnten Erwerbstätigkeit ohnehin nicht imstande ist.

3. Ein erwerbstätiges Kind kann sich z.B. behinderungsbedingt nicht selbst unterhalten, wenn es

  • einen hohen behinderungsbedingten Mehrbedarf hat, seine Einkünfte aber nur den Grundbedarf decken,
  • in seiner Leistungsfähigkeit gemindert ist und deshalb keiner Vollzeitbeschäftigung nachgehen kann, oder
  • auf einem besonders für Behinderte eingerichteten Arbeitsplatz tätig ist.

4. Die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt beruht dagegen auf einem niedrigen Lohnniveau, wenn das Kind eine Vollzeitbeschäftigung in einem nicht behinderungsspezifischen Beruf auf dem normalen Arbeitsmarkt ausüben kann, durch die es seinen existenziellen Grundbedarf auch ohne die Behinderung nicht decken könnte.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 15.3.2012 – III R 29/09

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