Feststellung der Fähigkeit zum Selbstunterhalt

Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen. Allein daraus, dass der Sozialleistungsträger den Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, ist nicht abzuleiten, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist.

Hintergrund: Unterhaltsbeitrag für behindertes Kind

Streitig war, wie zu ermitteln ist, ob ein volljähriges Kind aufgrund seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Streitzeitraum war Januar 2016.

M ist die Mutter ihres volljährigen schwerbehinderten Kindes K (Grad der Behinderung 70, Merkzeichen "G"). K wohnt in einer stationären Einrichtung. Die Kosten hierfür (Lebensunterhalt und fachliche Hilfe) werden vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (L) im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen. K ist bei der Gemeinde in Vollzeit beschäftigt. Der L beteiligte K an den Kosten für seine Unterbringung und Betreuung in der Einrichtung.

Den Antrag der M auf Festsetzung von Kindergeld für Januar 2016 lehnte die Familienkasse ab. M wandte ein, sie werde ab Januar 2016 vom Sozialleistungsträger (L) auf Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 28,38 EUR in Anspruch genommen. Daraus ergebe sich die Bedürftigkeit des K.

Das FG wies die Klage ab. Die K zur Verfügung stehenden Mittel deckten den Grundbedarf und den behinderungsbedingten Mehrbedarf. Die Heranziehung der M zu einem Unterhaltsbeitrag indiziere nicht die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt.

Entscheidung: Konkrete Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs

Der BFH wies die Revision zurück. M steht für K für Januar 2016 kein Kindergeld zu. K verfügte über ausreichende Mittel, um seinen Grundbedarf und seinem behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken.

Fähigkeit zum Selbstunterhalt    

Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu ermitteln (BFH v. 27.11.2019, III R 28/17, BStBl II 2021, 807, Rz. 16). Diese Betrachtung ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Ergibt sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016, 648).

Lebensbedarf eines behinderten Kindes

Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem (betragsmäßig an den Grundfreibetrag i.S. des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anknüpfenden) Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016, 648). Der Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Er kann einzeln nachgewiesen werden, wobei Erleichterungen für den Nachweis in Betracht kommen (Orientierung am Behindertenpauschbetrag bzw. am gezahlten Pflegegeld, BFH v. 24.08.2004, VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052, unter 2.c bb).

Finanzielle Mittel des behinderten Kindes

Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016, 648). Sozialleistungen zur Deckung des Grundbedarfs oder Mehrbedarfs sind zu berücksichtigen, soweit das Kind nicht vom Sozialleistungsträger zu einem Kostenbeitrag herangezogen wird. Die Einkünfte sind um den (anteiligen) Werbungskostenpauschbetrag, die Bezüge um eine monatliche Kostenpauschale von 15 EUR zu kürzen (BFH v. 27.11.2019, III R 28/17, BStBl II 2021, 807).

Die Inanspruchnahme des Kindergeldberechtigten durch den Sozialleistungsträger begründet nicht die Bedürftigkeit

Aus der (bis zum Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes und damit im Streitzeitraum Januar 2016 noch möglichen) Inanspruchnahme des Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das volljährige Kind durch den die Eingliederungshilfeleistungen erbringenden Sozialleistungsträger folgt nicht, dass ohne weitere Prüfung anzunehmen ist, das Kind sei zum Selbstunterhalt außerstande. Denn die durch den Sozialhilfeträger (nach § 94 Abs. 2 SGB XII i.V.m. §§ 1601 ff. BGB) gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten geltend gemachten Ansprüche beruhen auf den bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten. Für diese gelten anderen Maßstäbe als für den steuerlichen Familienleistungsausgleich. Das Bestehen einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht ist damit kein Tatbestandsmerkmal des Kindergeldanspruchs.

Detaillierte Vergleichsrechnung

Ob das behinderte Kind über Einkünfte und Bezüge verfügt, die seinen Grundbedarf und individuellen Mehrbedarf decken, lässt sich zutreffend nur ermitteln, wenn der Bedarf und die verfügbaren finanziellen Mittel des Kindes bei der Vergleichsrechnung im Einzelnen betrachtet werden. Dadurch wird die tatsächliche finanzielle Leistungsfähigkeit des Kindes bestimmt. Für den Streitfall ergibt sich folgender Vergleich:

  • Bedarf: Grundfreibetrag: (2016) 8.652 EUR x 1/12 = 721 EUR; behinderungsbedingter Mehrbedarf: 4.050 EUR  Eingliederungshilfe ./. Verpflegungsanteil 236 EUR = 3.814; 721 EUR + 3814 EUR  = 4.535 EUR.
  • Verfügbare Mittel: Nettolohn: 1.443 EUR + Eingliederungshilfen 4.050 EUR ./. anteiliger Werbungskostenfreibetrag 83 EUR ./. monatliche Kostenpauschale 15 EUR  ./. Unterhaltsbeitrag der M 28 EUR ./. Kostenbeitrag des K 506 EUR = 4.861 EUR.
  • Die Mittel übersteigen den Bedarf.  

Hinweis: Unterscheidung zwischen Bedürftigkeit nach BGB und nach Kindergeldrecht

Der BFH präzisiert, dass aus dem Umstand, dass der Sozialleistungsträger den dem Grunde nach Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, nicht abzuleiten ist, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist. Die bürgerlich-rechtliche Unterhaltspflicht entspricht nicht der Typisierung in § 32 Abs. 1 Satz 1 EStG. Auch sachlich ist es nicht geboten, die steuerliche Entlastung für kindbedingte Aufwendungen am bürgerlich-rechtlichen Unterhalt auszurichten und sie damit letztlich nach dem sozialen Status der einzelnen Familie zu bestimmen.  

Angehörigen-Entlastungsgesetz

Nach der ab 2020 geltenden Neuregelung (Gesetz v. 10.12.2019 (BGBl I 2019, 2135) werden unterhaltsverpflichtete Eltern entlastet, deren volljährige Kinder Eingliederungshilfe beziehen. Sie müssen keinen Beitrag mehr zu den Leistungen für ihre Kinder aufbringen.

BFH Urteil vom 27.10.2021 - III R 19/19 (veröffentlicht am 24.02.2022)

Alle am 24.02.2022 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen.



Schlagworte zum Thema:  Kindergeld, Unterhalt, Einkommensteuer