Rz. 65

Gilt für eine Steuer das Stichtagsprinzip (Bewertung, GrESt, ErbSt), liegt eine sachliche Unbilligkeit nicht allein darin, dass die steuererhöhenden Umstände vor dem Stichtag eintreten und damit zu berücksichtigen sind bzw. die steuermindernden Umstände nach dem Stichtag eintreten und damit nicht zu berücksichtigen sind.[1] Bei der ErbSt ist die Steuerfestsetzung daher sachlich nicht unbillig, wenn der Erblasser wenige Tage vor Inkrafttreten eines niedrigeren ErbSt-Tarifs stirbt[2] oder wenn er kurz vor der Eheschließung stirbt und der Partner, der Erbe geworden ist, dadurch in die ungünstigere Steuerklasse fällt (vgl. Rz. 79). Eine Bewertung der Beteiligung an einer Personengesellschaft mit den Steuerbilanzwerten ist nicht allein deshalb sachlich unbillig, weil kurze Zeit nach dem Bewertungsstichtag der Beteiligte stirbt und dadurch eine gesellschaftsvertragliche Beschränkung des Abfindungsanspruchs des Erben eingreift.[3]

 

Rz. 66

Dieses Festhalten am Stichtag setzt aber eine Entwicklung der Verhältnisse voraus, die sich im Rahmen des Gewöhnlichen und Vorhersehbaren hält. So gehört es zu den gewöhnlichen Erfahrungen, dass es bei Änderungen im Bereich der ErbSt Fälle gibt, bei denen der Todestag vor, aber auch nach dem Stichtag liegt; ungewöhnliche Umstände liegen hier nicht vor. Ebenso liegt es im Rahmen der gewöhnlichen Erfahrungen, dass ein Vermögensgegenstand nach dem Stichtag erheblich an Wert verlieren kann.[4] Sachlich unbillig kann das Stichtagsprinzip aber wirken bei Ereignissen, die völlig außerhalb des Gewöhnlichen und Vorhersehbaren liegen. Solche Ereignisse sind etwa Katastrophen nach dem Stichtag, die den steuerbelasteten Vermögensgegenstand zerstören oder wesentlich entwerten (z. B. Naturkatastrophen). Bei der Bewertung kann das Stichtagsprinzip auch sachlich unbillig werden, wenn der Wert bis zum Stichtag durch Spekulationen künstlich aufgebläht wird, nach dem Stichtag der Kurs aber in einer Weise zusammenbricht, der über normale und zu erwartende, wenn auch starke Kurseinbrüche weit hinausgeht.[5] Bei kursnotierten Vermögenswerten gehören auch sehr starke Kurseinbrüche zum gewöhnlichen Lauf der Dinge und begründen keine sachliche Unbilligkeit. Anders ist es aber bei ganz außergewöhnlichen Kurszusammenbrüchen kurz nach dem Stichtag, die den Wert der Vermögensgegenstände auf einen Bruchteil der Stichtagswerte zusammenschmelzen lassen.

 

Rz. 66a

Trotz des Stichtagsprinzips kann aber sachliche Unbilligkeit vorliegen, wenn im Einzelfall eine anomale Besteuerung einzutreten droht. Das hat der BFH bei dem Erwerb einer lebenslangen Leibrente angenommen, bei der der Berechtigte die jährliche Besteuerung mit dem Jahreswert nach § 23 Abs. 1 ErbStG gewählt hatte.[6] Die zu besteuernden Jahreswerte berechnen sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Erbschaftsfalles. Wird der Verpflichtete später leistungsunfähig, ist der Jahreswert weiter zu versteuern, auch wenn keine Leistungen mehr erbracht werden, oder die Jahressteuer ist mit ihrem Kapitalwert nach § 23 Abs. 2 ErbStG abzulösen, auch dies aber nach den Verhältnissen des Zeitpunktes des Erbfalls. Der BFH a. a. O. hatte entschieden, dass eine sachliche Unbilligkeit vorliegen kann, sodass der Ablösebetrag der Steuerschuld mit Null festzustellen sei, wenn der Berechtigte längere Zeit (im Streitfall 5 Jahre) die Jahreswerte versteuert hatte, ohne dass es zu Zahlungen des Verpflichteten an ihn gekommen war, und nicht zu erwarten war, dass der Verpflichtete die Leistungen wieder aufnehmen würde. Der BFH a. a. O. hat auch berücksichtigt, dass der Berechtigte bis zum Zeitpunkt der Ablösung der Steuerschuld bereits rund das Doppelte an Steuer bezahlt hatte, als bei Sofortversteuerung hätte gezahlt werden müssen. Wegen der Bedeutung des Stichtagsprinzips kann jedoch nur in besonderen Einzelfällen eine Billigkeitsmaßnahme notwendig werden.

 

Rz. 67

Entsprechendes gilt für das Inkrafttreten von Gesetzen. Es ist nicht unbillig, dass eine Steuererleichterung auf den Stpfl. nicht anwendbar ist, weil er den maßgeblichen Tatbestand vor dem Inkrafttreten des steuersenkenden Gesetzes verwirklicht hat.[7]

[1] BFH v. 27.2.1985, II R 83/83, BFH/NV 1985, 6; BFH v. 30.8.2017, II B 16/17, BFH/NV 2017, 1611 zu Wertminderungen nach dem Stichtag bei der Schenkungsteuer; FG München v. 25.7.2018, 4 K 1028/18, EFG 2018, 1723, Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, AZ beim BFH II B 80/18.
[2] Kapp, DStZ 1988, 46.
[4] FG Nürnberg v. 24.1.1991, VI 180/87, EFG 1991, 548.
[5] Kapp, DStZ 1988, 46; a. A. jedoch BFH v. 13.5.1998, II R 98/97, BFH/NV 1998, 1376.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge