a) Steuergesetze und § 370 AO als Gesamttatbestand

 

Rz. 25

[Autor/Stand] Von verfassungsrechtlicher Bedeutung ist die Frage der Abhängigkeit der Strafbarkeit nach § 370 AO vom Steuerrecht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG. Nach Art. 103 Abs. 2 GG, der wortgleich in § 1 StGB wiederholt wird, ist die Bestrafung einer Tat nur zulässig, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Das wird nach allgemeiner Meinung als Gebot an den Gesetzgeber verstanden, die Voraussetzungen der Strafbarkeit genau und präzise im Gesetz festzulegen[2]. Das diesen Anforderungen genügende Gesetz muss zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits gelten (Rückwirkungsverbot)[3]. Aus Art. 104 Abs. 1 GG folgt, dass jedenfalls in den Fällen, in denen Freiheitsstrafe verhängt werden kann oder verhängt wird, dieser Präzisionsauftrag auf das formelle Gesetz, das Parlamentsgesetz, und nicht auf das Gesetz im materiellen Sinn bezogen ist[4].

 

Rz. 25.1

[Autor/Stand] Sind steuergesetzliche Norm und § 370 AO zusammen zu lesen und ergeben erst gemeinsam den vollständigen Straftatbestand, wie das die h.M. zu Unrecht postuliert (s. Rz. 20 ff., 27), dann müssen die durch § 370 AO in Bezug genommenen Steuergesetze im strafrechtlichen Kontext ebenso den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG genügen wie der eigentliche Straftatbestand selbst[6] (s. Rz. 28 ff.). Ebenso wäre das allgemein anerkannte, ebenfalls in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Analogieverbot – das vornehmlich an den Rechtsanwender gerichtete Verbot, die Norm im Strafrecht zum Nachteil des Einzelnen über ihren Wortlaut hinaus auszulegen[7] – auf diesen zusammengesetzten Gesamttatbestand bezogen.

In diesem Sinn formuliert das BVerfG in st. Rspr.:

"Die Vorschrift [§ 370 AO] bestimmt die Strafbarkeit desjenigen, der den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht und dadurch Steuern verkürzt. Ob eine solche Steuerverkürzung vorliegt, richtet sich nach den Vorschriften des materiellen Steuerrechts. Insoweit handelt es sich bei § 370 AO um ein Blankettgesetz"[8].

"Blankettstrafgesetze genügen dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebot nur dann, wenn sich die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon aufgrund eines Gesetzes voraussehen lassen. Dabei kann sich der Gesetzgeber einer Verweisung auf eine ausfüllende Gesetzesnorm bedienen. Aber auch in diesem Falle müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit entweder im Blankettstrafgesetz selbst oder in einem anderen, in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben sein (BVerfG v. 3.7.1962 – 2 BvR 15/62, BVerfGE 14, 174 [185 f.]; BVerfG v. 25.7.1962 – 2 BvL 4/62, BVerfGE 14, 245 [252]; BVerfG v. 3.5.1967 – 2 BvR 134/63, BVerfGE 22, 1 [18]; BVerfG v. 23.5.1967 – 2 BvR 534/62, BVerfGE 22, 21 [25]; BVerfG v. 7.5.1968 – 2 BvR 702/65, BVerfGE 23, 265 [269]). Der Gesetzgeber darf dem Verordnungsgeber nur die nähere Spezifizierung des Tatbestandes überlassen"[9].

"Bei Blankettstrafgesetzen unterliegen neben der Strafnorm auch die sie ausfüllenden Vorschriften den sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Anforderungen (BVerfG v. 8.5.1974 – 2 BvR 636/72, BVerfGE 37, 201 [209]; BVerfG v. 6.5.1987 – 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329 [342, 344 ff.] [ = wistra 1988, 20]). [...] daher ist auch die Auslegung und Anwendung der ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen"[10].

 

Rz. 25.2

[Autor/Stand] Nicht erläutert wird vom BVerfG, warum bei § 370 Abs. 1 AO etwas anderes gilt als beim Tatbestand der Untreue nach § 266 StGB[12], der als Tatbestand mit normativen Merkmalen angesehen wird[13], obwohl dort ebenfalls auf Rechtsnormen außerhalb des Strafrechts verwiesen wird, die über die Strafbarkeit entscheiden (zur Deutung des § 370 Abs. 1 AO als Tatbestand mit normativen Merkmalen s. Rz. 27 ff.). In einem zweiten Schritt wird aber auch der als Blankettstraftatbestand angesehene § 370 AO in den bislang ergangenen Entscheidungen vom BVerfG als den verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich genügend angesehen[14]:

"Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach entschieden, dass § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG und des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG gerecht wird (vgl. BVerfG v. 8.5.1974 – 2 BvR 636/72, BVerfGE 37, 201 [206 ff.] zu § 392 Abs. 1 AO a.F.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG v. 21.3.1989 – 2 BvR 162/89; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35 f. [= wistra 1991, 175]; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG v. 23.6.1994 – 2 BvR 1084/94, NJW 1995, 1883) [...] Diesen Anforderungen genügen die im vorliegenden Fall anzuwendenden steuerrechtlichen Vorschriften. Die Steuerpflicht sowie die Grundlagen der Besteuerung, insbesondere die Ermittlung der zu versteuernden Umsätze, ergeben sich unmittelbar aus dem Umsatzsteuergesetz. Gemäß § ...

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