Gerichtlicher Rechtsschutz ist nur dann effektiv, wenn er nicht zu spät kommt. Deshalb garantieren die Art. 19 Abs. 420 Abs. 3 GG und 6 Abs. 1 EMRK einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit.

Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Gem. Satz 2 der Vorschrift richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

Der Begriff der "Angemessenheit" ist für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen – wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter – andererseits Rechnung tragen.

Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden. Dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens – auch in zeitlicher Hinsicht – einzuräumen.

 
Hinweis

Auch die Finanzgerichtsbarkeit wird erfasst

Die Entschädigungslösung ist zwar in den §§ 198 bis 201 GVG für die ordentliche Gerichtsbarkeit geregelt. Durch die Verweisvorschrift des § 155 FGO wird allerdings auch die Finanzgerichtsbarkeit erfasst.

Zwar schließt es die nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG vorzunehmende Einzelfallbetrachtung aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb der ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte.

Gleichwohl kann für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, die Vermutung aufgestellt werden, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut 2 Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt (vgl. hierzu bereits ausführlich in Honorargestaltung 11/2021 und 08/2017).

Anspruch ist verschuldensunabhängig

Nach dem Gesetz kommt es nicht darauf an, ob sich das zuständige Gericht pflichtwidrig verhalten hat. Denn § 198 GVG enthält einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch sui generis, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind.

Daraus wird zu Recht gefolgert, dass sich die Länder oder der Bund als Schuldner des Entschädigungsanspruchs zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf systembedingte Umstände berufen können, welche letztlich doch wie z. B. die Überlastung von Gerichten – in ihrem Abhilfe ermöglichenden Verantwortungsbereich liegen.

Verzögerungen aufgrund Corona-Pandemie

Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i. S. d. § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i. S. d. § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.

Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie – was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt – ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe (vgl. BFH, Urteil v. 27.10.2021, X K 5/20, BFH/NV 2022, S. 668).

 
Hinweis

Verzögerungen im Klageverfahren lagen im außerstaatlichen Bereich

Als Folge der Pandemie hatte praktisch jedermann in allen Lebensbereichen Einschränkungen hinzunehmen. In dauerhafter Erinnerung ist die Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel v. 18.3.2020 geblieben, der zufolge "seit dem Zweiten Weltkrieg" keine vergleichbare Herausforderung für die Menschen in der Bundesrepublik bestanden habe. Die Ursachen für die Verzögerungen im Klageverfahren waren daher im außerstaatlichen Bereich festzumachen (vgl. Dr. Martin Kellner, LL.M. [Vanderbilt], RiSG, Freiburg, DStR 2022, S. 886).

Autor: Dipl.-Finw. Steuerberater Werner Becker, Namborn

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