Entschädigungsanspruch bei überlangen Gerichtsverfahren

Eine coronabedingte Verzögerung des Sitzungsbetriebs beim Finanzgericht, die zu Beginn der Corona-Pandemie eingetreten ist, führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S.d. § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.

Hintergrund: Coronabedingte Verfahrensverzögerung

X beantragte beim BFH nach § 198 GVG eine Entschädigung vom Land wegen der von ihm als unangemessen angesehenen 31-monatigen Dauer seines Klageverfahrens vor dem FG.

X war in 2009 bis 2011 für eine in der Schweiz ansässige GmbH als Medienberater selbstständig tätig. Entgegen der Auffassung des X bejahte das FA insoweit im Inland steuerbare und steuerpflichtige sonstige Leistungen.

Mit seiner Klage beantragte X die Herabsetzung der USt für die Streitjahre auf jeweils 0 EUR (Klageerhebung am 19.1.2018). Nach Schriftsatzaustausch beantragte X am 23.5.2018 die Anberaumung eines Termins zur Beweisaufnahme und mündlichen Verhandlung.

Am 15.1.2020 erhob X eine Verzögerungsrüge und beantragte nachdrücklich, die Sache unverzüglich zu laden.

Am 23.1.2020 forderte der Berichterstatter beim FA die Verwaltungsakte an, die am 5.2.2020 vorgelegt wurden. Mit Verfügung vom 8.7.2020 bestimmte der Vorsitzende den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 21.8.2020.

Mit Urteil vom 21.8.2020 wies das FG die Klage ab. Das Urteil wurde am 14.9.2020 zugestellt (d.h. 2 Jahre und 7 Monate nach Klageerhebung).

Am 20.10.2020 erhob X Klage beim BFH gegen das Land wegen des von ihm als verzögert angesehenen Rechtsstreits vor dem FG.

Es lägen keine sachlichen Gründe für die Dauer des frühzeitig entscheidungsreifen Verfahrens von insgesamt 31 Monaten vor. Einschränkungen des Gerichtsbetriebs aufgrund der Corona-Pandemie und Umbaumaßnahmen im Gericht hätten nicht zu einem Stillstand der Rechtspflege geführt und könnten nicht zu seinem, des X, Nachteil gewertet werden.

Entscheidung: Keine unangemessene Verfahrensverlängerung aufgrund Corona

Der BFH wies die Entschädigungsklage als unbegründet zurück. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war nicht unangemessen, da die pandemiebedingten Verzögerungen dem FG nicht zurechenbar sind.

Zwei-Jahres-Vermutung

Wer aufgrund unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens (als Verfahrensbeteiligter) einen Nachteil erleidet, kann entschädigt werden. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Beteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 GVG).

Für die Dauer finanzgerichtlicher Verfahren geht der BFH grundsätzlich von der Vermutung aus, dass der Finanzrichter bei einem typischen durchschnittlichen Klageverfahren gut zwei Jahre nach dem Klageeingang konsequent auf die Erledigung des Verfahrens hinwirken muss und das Gericht die Akte nicht unbearbeitet lässt.

Diese Vermutung trifft im Streitfall zu

Für die Entscheidung waren Leistungserbringer bzw. -empfänger zu bestimmen und der Auslandsbezug zu berücksichtigen. Es handelt sich um ein durchschnittliches erstinstanzliches Klageverfahren. Besondere Eilbedürftigkeit hat X nicht geltend gemacht, sodass von der Zwei-Jahres-Regelvermutung auszugehen ist.

Diese Zeitspanne endete (ausgehend von der Klageerhebung im Januar 2018) mit Ablauf des Januars 2020. Sie ist eingehalten, da der Berichterstatter im Januar 2020 vom FA die Akten angefordert hat. 

Pandemiebedingte Verzögerung führt nicht zur Unangemessenheit der Verfahrensdauer

Für die nachfolgenden Monate bis einschließlich Juni 2020 (dem Monat vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 8.7.2020) ist von einer pandemiebedingten Verzögerung des Klageverfahrens auszugehen. Diese Verzögerung ist allerdings dem beklagten Land nicht zuzurechnen. Sie führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer.

Bei der Pandemie handelt es sich um ein derart außergewöhnliches, beispielloses Ereignis, dass nicht davon ausgegangen werden kann, die Justizbehörden hätten Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege treffen müssen. Deshalb scheidet auch eine ex-post-Betrachtung aus, ob der Sitzungsbetrieb früher als geschehen wieder hätte aufgenommen werden können. Angesichts der besonderen Situation im ersten Halbjahr 2020 war es daher nicht zwingend, das Ausgangsverfahren bereits im Mai 2020 für den August 2020 zu laden.

Entscheidung durch Gerichtsbescheid oder ohne mündliche Verhandlung war nicht geboten

Eine solche Entscheidung kann unter entschädigungsrechtlichen Aspekten nicht gefordert werden. Denn die Durchführung oder Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung steht im Ermessen des FG (BFH v. 31.8.2010, VIII R 36/08, BStBl II 2011 S. 126). Ebenso liegt es im Ermessen des FG, ob es ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheidet (BFH v. 31.8.2006, II E 4/06, BFH/NV 2007 S. 73).

Hinweis: Verzögerungsrüge

Es kommt immer wieder vor, dass sich – aus verschiedensten Gründen – finanzgerichtliche Verfahren über Gebühr in die Länge ziehen. Die Erhebung einer Entschädigungsklage gegen das Land dürfte jedoch nur in den seltensten Fällen erforderlich sein. Denn Voraussetzung einer Entschädigungsklage ist die (vorherige) Erhebung einer Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG). Diese stellt für den bearbeitenden Richter eine "Vorwarnung" dar, die regelmäßig dazu führt, dass eine überfällige Akte nunmehr zügig bearbeitet wird. Im Übrigen kann auch eine formlose Nachfrage beim Senatsvorsitzenden genügen, um eine Beschleunigung herbeizuführen.  

BFH Urteil vom 27.10.2021 - X K 5/20 (veröffentlicht am 14.04.2022)

Alle am 14.04.2022 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen.

Schlagworte zum Thema:  Entschädigung, Schadensersatz, Gerichtsverfahren