Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Bezeichnung des Verfahrensmangels. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. unterlassene Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags. Rüge einer Überraschungsentscheidung. übergangener Bevollmächtigter

 

Orientierungssatz

1. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Gerichte das entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben, zumal sie nicht verpflichtet sind, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl BVerfG vom 1.8.1984 - 1 BvR 1387/83 = SozR 1500 § 62 Nr 16 mwN). Insoweit bedarf es des Vortrags besonderer Umstände des Einzelfalls, die einen Gehörsverstoß durch das Gericht nahe legen.

2. Soweit eine Überraschungsentscheidung gerügt wird, ist unter Bezugnahme auf den Gang des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts dazulegen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte.

3. Wird ein Bevollmächtigter "übergangen", weil das Gericht unmittelbar mit dem Vertretenen korrespondiert, so kann darin ein Gehörsverstoß liegen, weil das rechtliche Gehör im Fall der Bevollmächtigung primär durch den Bevollmächtigten vermittelt bzw primär diesem zu gewähren ist.

 

Normenkette

SGG § 73 Abs. 3 S. 1, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 24.01.2006; Aktenzeichen L 5 KR 185/04)

SG Augsburg (Gerichtsbescheid vom 05.08.2004; Aktenzeichen S 3 RJ 827/99)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen.

Im Anschluss an eine Betriebsprüfung bei der Klägerin stellte der beklagte Rentenversicherungsträger die Versicherungspflicht ua der Beigeladenen zu 1. und 4. in allen Zweigen der Sozialversicherung fest und forderte Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach. Den gegen die Beitragsnachforderung unter Hinweis darauf gerichteten Widerspruch der Klägerin, beide Beigeladenen seien bei ihr nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, wies die Beklagte zurück. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) den Gerichtsbescheid des SG mit Urteil vom 24. Januar 2006 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im genannten Urteil des LSG.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist in entsprechender Anwendung von § 169 Satz 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

Das Bundessozialgericht (BSG) darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn

- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder

- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder

- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).

Die Klägerin macht ausschließlich Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), und zwar die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das Berufungsgericht, geltend.

1. Die Klägerin sieht einen Gehörsverstoß zunächst darin, dass das LSG bei der Beurteilung der vom Beigeladenen zu 4. bei ihr ausgeübten Tätigkeit im Rahmen seiner Gesamtschau auf Seite 12 seines Urteils zu ihren Lasten davon ausgegangen ist, der Beigeladene zu 4. habe täglich der Geschäftsleitung einen Faxbericht zu erstellen gehabt und die erbrachten Leistungen nicht gegenüber den Kunden selbst abgerechnet. Hiermit im Widerspruch ständen Äußerungen des Beigeladenen zu 4., die dieser in dem am 5. Juni 2003 durchgeführten Erörterungstermin in dem erstinstanzlichen Verfahren S 3 RJ 18/00 (später verbunden mit S 3 RJ 827/99) gemacht habe. Insoweit rügt die Klägerin zum einen - sinngemäß -, dass die seinerzeitigen Äußerungen des Beigeladenen zu 4. vom LSG nicht zur Kenntnis genommen und von ihm bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen worden seien. Zum anderen hält sie - ausdrücklich - eine Überraschungsentscheidung für gegeben, weil das Berufungsgericht sein Urteil auf bisher nicht erörterte Gesichtspunkte gestützt habe, zuvor nicht darauf hingewiesen habe, dass es eine andere Entscheidung treffen wolle als das SG, und der Rechtsstreit insoweit eine unerwartete Wendung genommen habe.

Soweit die Klägerin - sinngemäß - geltend macht, das angefochtene Berufungsurteil beruhe auf der unterlassenen Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags des Beigeladenen zu 4. im erstinstanzlichen Verfahren, ist ein Gehörsverstoß nicht in der gebotenen Weise bezeichnet. Fraglich ist schon, ob es sich dabei nicht im Kern um eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ausgeschlossene (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) Rüge der Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG handelt und inwieweit sich die Klägerin hierauf überhaupt selbst berufen kann. Jedenfalls hat sie mit dem bloßen Hinweis darauf, dass das LSG - nach ihrem Dafürhalten - den Äußerungen des Beigeladenen zu 4. nicht gefolgt sei, nicht dargelegt, dass das Berufungsgericht ihr diese in Bezug nehmendes tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen hat. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Gerichte das entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben, zumal sie nicht verpflichtet sind, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl BVerfG SozR 1500 § 62 Nr 16 mwN). Insoweit bedarf es des Vortrags besonderer Umstände des Einzelfalls, die einen Gehörsverstoß durch das Gericht nahe legen. Einen solchen besonderen Umstand stellt die bloße "Existenz widersprechender Aussagen des Beigeladenen zu 4." nicht dar, zumal das LSG im Tatbestand seines Urteils zur Ergänzung des Tatbestandes ausdrücklich auf die Gerichtsakten erster Instanz und damit auch auf die Niederschrift vom 5. Juni 2003 und das Urteil des SG Bezug genommen hat, das seinerseits im Tatbestand (auf Seite 5) und in den Entscheidungsgründen (auf Seite 9 f) auf diese Niederschrift verweist.

Soweit die Klägerin - ausdrücklich - das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung rügt, hat sie die Anforderungen an die Darlegung eines Gehörsverstoßes ebenfalls nicht erfüllt. Sie trägt lediglich vor, das Berufungsgericht habe darauf hinweisen müssen, dass es sich im Rahmen seiner Überzeugungsbildung zu den zitierten Äußerungen des Beigeladenen zu 4. in Widerspruch setzen und der Berufung der Beklagten stattgeben wolle. Hierauf hätte sich die Klägerin nicht beschränken dürfen. Vielmehr hätte sie unter Bezugnahme auf den Gang des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen müssen, dass die Entscheidung des LSG nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Soweit die Klägerin allgemein - außerhalb dieser Fallgestaltung - eine Hinweispflicht des Gerichts annimmt, verkennt sie, dass es einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene, bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, nicht gibt (vgl BSG, Beschluss vom 24. September 2003, B 8 KN 6/02 B, Juris-Nr KSRE018231314 ; Beschluss vom 28. Februar 1991, 2 BU 191/90, Juris-Nr KSRE007821414 ; Beschluss vom 12. Juni 1990, 2 BU 227/89, Juris-Nr KSRE005611414 ).

2. Die Klägerin hält eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör ferner deshalb für gegeben, weil das LSG die Berufungsschrift und die Berufungsbegründungsschrift der Beklagten vom 17. September 2004 ihr, ihren Prozessbevollmächtigten hingegen vor der Urteilsverkündung nicht, sondern erst zusammen mit dem Urteil und der Sitzungsniederschrift am 20. März 2006 übersandt habe. Von der Existenz eines Berufungsbegründungsschriftsatzes hätten ihre Prozessbevollmächtigten erst in der mündlichen Verhandlung am 24. Januar 2006 Kenntnis erlangt.

Der Sache nach rügt die Klägerin damit eine Verletzung des § 73 Abs 3 Satz 1 SGG; danach sind Mitteilungen des Gerichts an den Bevollmächtigten zu richten, wenn ein solcher bestellt ist. Wird der Bevollmächtigte "übergangen", weil das Gericht unmittelbar mit dem Vertretenen korrespondiert, so kann darin ein Gehörsverstoß liegen, weil das rechtliche Gehör im Fall der Bevollmächtigung primär durch den Bevollmächtigten vermittelt bzw primär diesem zu gewähren ist (vgl Hommel in: Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand Januar 2000, § 73 RdNr 41; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl, § 67 RdNr 2, 61, mit Nachweisen aus der Rspr der Verwaltungsgerichte). Jedoch hat die Klägerin eine hierin möglicherweise liegende Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet. Zum einen hätte sie darlegen müssen, dass ein möglicher Gehörsverstoß nicht - etwa durch tatsächliche Übergabe der ihr übersandten Schriftsätze an die Bevollmächtigten, was in solchen Fällen nahe liegt - während des Berufungsverfahrens geheilt wurde (zu dieser Möglichkeit vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl, § 73 RdNr 16a; ferner BSG SozR 1500 § 84 Nr 6). Zum anderen hätte sie Ausführungen dazu machen müssen, warum der mögliche Gehörsverstoß nicht gemäß § 202 SGG iVm § 295 der Zivilprozessordnung unbeachtlich ist (vgl hierzu BSG SozR Nr 5 zu § 73 SGG), weil er von ihr nicht oder nicht rechtzeitig gerügt wurde. Der angebliche Mangel war ihr seit Übersendung der Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift der Beklagten bekannt und durch die erneuten Bevollmächtigungen ihrer Prozessbevollmächtigten im Oktober 2004 und Januar 2006 noch einmal verdeutlicht worden. Davon, dass die Beklagte ihre Berufung mit Schriftsatz vom 17. September 2004 begründet hatte, hatten ihre Prozessbevollmächtigten spätestens seit Erhalt des Schriftsatzes der Beigeladenen zu 3. vom 15. Oktober 2004, der auf die Berufungsbegründung verwies, Kenntnis. Warum der von der Klägerin behauptete Gehörsverstoß trotz fehlender Rüge spätestens in der mündlichen Verhandlung am 24. Januar 2006 bei dokumentierter Anwesenheit ihres Prozessbevollmächtigten weiterhin beachtlich sein soll, ist nicht dargetan.

3. Die Klägerin sieht einen Gehörsverstoß schließlich darin, dass das Berufungsgericht den Aspekt, dass die Beigeladene zu 6. eine Befreiung des Beigeladenen zu 4. von der Versicherungspflicht Selbstständiger nach § 231 Abs 6 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - mit Bescheid vom 12. Februar 2002 abgelehnt hat, "in den Entscheidungsgründen nicht berücksichtigt habe". Auch insoweit genügt die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) nicht. Warum dahingehender Sachvortrag vom LSG nicht zur Kenntnis genommen und nicht in Erwägung gezogen worden sein soll, obwohl dieser in den Tatbestand des Berufungsurteils aufgenommen worden ist, ist nicht dargetan. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang vorträgt, das LSG habe nicht berücksichtigt, dass die Ablehnung der Befreiung wegen "Nichtvorliegens versicherungspflichtiger selbstständiger Tätigkeit" bereits eine inzidente Feststellung der Selbstständigkeit des Beigeladenen zu 4. enthalte, hält sie die materiell-rechtliche Auffassung des Berufungsgerichts für unrichtig. Hierauf kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen, § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2072753

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