Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

 

Orientierungssatz

Die §§ 62, 128 Abs 2 SGG, § 278 Abs 3 ZPO und Art 103 GG sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dementsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf erhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 3, § 160a Abs 2 S 3, §§ 62, 128 Abs 2; GG Art 103

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.10.1989; Aktenzeichen L 1 U 9/87)

 

Gründe

Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen der Folgen des am 9. September 1983 erlittenen Arbeitsunfalls über den 31. März 1985 hinaus Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vH zu erhalten, ohne Erfolg geblieben (Bescheid des Beklagten vom 25./29. November 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1986; Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 9. Dezember 1986 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 3. Oktober 1989). Das LSG ist zu der Überzeugung gelangt, die MdE sei insgesamt nur noch mit 15 vH zu bewerten (Arthrose des rechten oberen Sprunggelenks: 10 vH, Wirbelsäulenbeschwerden: 5 vH). Insoweit sei den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M.       zu folgen, dessen Gutachten transparenter und nachvollziehbarer sei als das des Dr. B.  , der die Unfallfolgen insgesamt mit 20 vH bewertet habe.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör mißachtet und sei seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen. Das LSG sei verpflichtet gewesen, ihr vorab mitzuteilen, daß es entgegen den Ausführungen von Dr. B.   nicht zu ihren Gunsten entscheiden wolle. Sie habe dem LSG mit Schriftsatz vom 8. September 1989 zum Ausdruck gebracht, sie gehe angesichts der im wesentlichen übereinstimmenden Gutachten davon aus, daß das LSG zu ihren Gunsten eine MdE von 20 vH annehmen werde, weil die geringfügige Differenz zwischen 15 und 20 vH medizinisch nicht meßbar sei; für den Fall, daß das Gericht anderer Auffassung sein sollte, habe sie um einen entsprechenden rechtlichen Hinweis gebeten, den sie jedoch nicht erhalten habe. Wäre dieser Hinweis erfolgt, so hätte sie im Termin zur mündlichen Verhandlung zumindest auf die unterschiedlichen Untersuchungszeitpunkte hingewiesen, aus denen das LSG hätte entnehmen können, daß in den wirbelsäulenabhängigen Beschwerden zwischen dem 27. Januar 1988 (Untersuchung durch Dr. B.  ) und dem 11. Mai 1989 (Untersuchung durch Prof. Dr. M.      ) eine Besserung eingetreten sein konnte, was auch insofern von Bedeutung sei, als sich der Klageanspruch auf den gesamten Zeitraum seit dem 31. März 1985 erstrecke. Dieser Aspekt hätte das LSG auch zu einer weiteren Sachaufklärung veranlassen müssen.

Die Beschwerde ist teilweise unbegründet, zum anderen Teil unzulässig.

Die Rüge, das LSG habe den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-, § 278 Abs 3 Zivilprozeßordnung, Art 103 Grundgesetz) verletzt, ist nicht begründet. Die genannten Vorschriften sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dementsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf erhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte. Solche hat das LSG im vorliegenden Fall nicht in das Verfahren eingebracht; die Frage, ob die Unfallfolgen nach dem 31. März 1985 noch mit einer MdE um mindestens 20 vH zu bewerten sind, war von Anfang an Gegenstand des Verfahrens und hat den Sachverständigen zur Beantwortung vorgelegen. Das LSG hat die vorliegenden Gutachten lediglich anders gewürdigt, als die Klägerin dies erwartet hat. Es gibt aber keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Angesichts des in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verankerten Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung und des Verbots einer vorweggenommenen Beweiswürdigung durch einzelne Mitglieder des Spruchkörpers vor der geheimen Beratung des Gerichts müssen die Beteiligten deshalb damit rechnen, daß das Gericht eine andere als die erwartete Überzeugung gewinnt.

Soweit die Klägerin darüber hinaus rügt, das LSG habe den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt, ist die Beschwerde unzulässig, weil sie sich auf keinen Beweisantrag bezieht, den das LSG ohne hinreichende Begründung übergangen haben soll (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649872

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