Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil eines Finanzgerichts braucht keinen Hinweis darauf zu enthalten, daß Verfahrensmängel nur innerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist von einem Monat gerügt werden können.

Beantragt ein Rechtsanwalt Gewährung von Nachsicht wegen eines Büroversehens, muß er die Tatsachen, auf die er das Versehen zurückführt, und die Vorkehrungen, die er zur Vermeidung solcher Büroversehen getroffen hat, im einzelnen angeben.

 

Normenkette

AO §§ 86-87; FGO § 56; AO § 246 Abs. 3, § 237/2, § 258/1, §§ 247, 289 Abs. 2; FGO § 120 Abs. 1; AO § 290/1; FGO § 120 Abs. 2; AO § 296/2; FGO § 118/3

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Höhe der Umsätze und Gewinne des Bf. in den Jahren 1953 bis 1956 zutreffend geschätzt wurde. Für die Entscheidung ist erheblich, ob der Bf. seine Verfahrensrügen rechtzeitig vorgebracht hat.

Beim Bf. fand 1957 eine Betriebsprüfung statt, auf Grund deren das Finanzamt u. a. die Umsatzsteuer- und Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1953 bis 1955 berichtigte und die Veranlagungen für 1956 erstmalig durchführte. Die Einsprüche und Berufungen des Bf. hatten keinen Erfolg.

Gegen die am 3. August 1962 mit Postzustellungsurkunde zugestellten Urteile des Finanzgerichts legte der Bf. durch seinen Bevollmächtigten - einen Rechtsanwalt - Rb. ein. Die Rechtsmittelbelehrungen beider Urteile enthielten folgenden Satz: "Die Rechtsbeschwerde ist binnen einem Monat nach Zustellung (Bekanntgabe) des Urteils bei der Geschäftstelle des Finanzgerichts schriftlich in dreifacher Ausfertigung oder zur Niederschrift einzulegen."

In der Rechtsbeschwerdeschrift vom 20. August 1962 in der Umsatzsteuersache heißt es: "Eine ausführliche Begründung werde ich innerhalb einer angemessenen Frist nachreichen." In der Rechtsbeschwerdeschrift vom selben Tage in der Einkommensteuersache wird ausgeführt: "Eine Begründung wird nachgereicht. Im Hinblick auf den Umfang der Sache werde ich jedoch dazu eine gewisse Zeit benötigen."

Mit Schreiben vom 7. November 1962 beantragte der Bevollmächtigte des Bf., ihm die Frist zur Begründung der Rb. bis zum 15. Dezember 1962 zu verlängern. Die Begründungen der Rbn. gingen am 27. November 1962 beim Bundesfinanzhof ein. Mit Verfügung vom 22. November 1962, bei der Post aufgegeben am 28. November 1962, teilte die Geschäftsstelle des damals für die Umsatzsteuersache zuständigen V. Senats dem Bevollmächtigten des Bf. mit, der Senat werde möglicherweise die Begründung der Rb. als verspätet eingegangen ansehen; es werde anheimgestellt, Gründe für eine Nachsichtgewährung anzugeben.

Daraufhin vertrat der Bevollmächtigte des Bf. mit Schriftsatz vom 6. Dezember 1962 die Ansicht, die Begründungsfrist sei nicht in Lauf gesetzt worden, weil die Rechtsmittelbelehrung keinen Hinweis darauf enthalten habe, daß Verfahrensrügen nur innerhalb eines Monats nach Ablauf der Beschwerdefrist geltend gemacht werden könnten. Im übrigen habe er in den Rechtsbeschwerdeschriften Anträge auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Rbn. gestellt, wenn er diese Anträge auch nicht ausdrücklich formuliert habe. Diese Anträge seien nicht beschieden worden. Vorsorglich beantragte er die Gewährung von Nachsicht. Bei Stellung der Anträge auf Fristverlängerung am 20. August 1962 habe er seine Büroangestellte gebeten (so heißt es wörtlich), "sich die Wiedervorlage an einem jetzt nicht mehr feststellbaren Tage, der aber sicherlich mindestens eine Woche vor dem Ablauf der Begründungsfrist lag, zu notieren, wie dies im Rahmen büromäßiger Erledigung von Rechtssachen größeren Umfangs beim Unterzeichneten üblich ist. Infolge eines Versehens der Angestellten ist dies offensichtlich nicht geschehen". Nur so sei es erklärlich, daß er erst mit Schreiben vom 7. November 1962 noch einmal ausdrücklich um Fristverlängerung gebeten habe. Die fristgerechte Erledigung sei ohne sein Verschulden versäumt worden, da er den Fall büromäßig festgehalten und ordnungsmäßig überwacht habe.

Mit der Rb. rügt der Bf. u. a., das Finanzgericht habe nicht alle angebotenen Beweise erhoben.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Bf. in der Umsatzsteuersache ist unbegründet. Die Rb. in der Einkommensteuersache führt zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Erhöhung der Einkommensteuer in allen Streitjahren.

Die in dem Vorbringen des Bf., das Finanzgericht habe nicht über alle seine erheblichen Behauptungen Beweis erhoben, zu erblickende Rüge der mangelnden Sachaufklärung ist verspätet und kann vom Senat nicht mehr berücksichtigt werden. Der Bf. konnte etwaige Verfahrensmängel nur innerhalb der Begründungsfrist von einem Monat rügen, die mit dem Ablauf der Beschwerdefrist, also dem 3. September 1962, zu laufen begann (§ 289 Abs. 2 AO) und, da sie nicht verlängert wurde, am 3. Oktober 1962 endete. Er tat dies jedoch erst mit den am 27. November 1962 beim Bundesfinanzhof eingegangenen Schriftsätzen vom 19. November 1962.

Der Ansicht des Bf., die Begründungsfrist habe wegen des Fehlens eines entsprechenden Hinweises in den den finanzgerichtlichen Urteilen angefügten Rechtsmittelbelehrungen nicht zu laufen begonnen, kann der Senat nicht folgen. Eine Rechtsmittelfrist wird nicht in Lauf gesetzt, wenn eine gesetzlich vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung fehlt oder unrichtig erteilt wird (§ 246 Abs. 3 AO). Nach § 258 Abs. 1 Satz 2 AO muß den Entscheidungsgründen eine Belehrung beigefügt werden, welches Rechtsmittel weiter zulässig und binnen welcher Frist und wo es einzulegen ist. Das Gesetz bringt damit klar zum Ausdruck, daß nur eine Belehrung über die Einlegungsfrist, nicht aber auch eine solche über die Begründungsfrist erforderlich ist. Das ergibt sich auch aus der Wortfassung des § 258 Abs. 1 Satz 2 AO, wo es heißt, daß über eine "Frist", nicht über "Fristen" zu belehren ist, wie es nötig gewesen wäre, wenn die Belehrung über die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rb. hätte vorgeschrieben werden sollen.

Bei der Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels sind eine Anzahl von Formvorschriften zu beachten. Es ist kaum durchführbar, auf alle diese Punkte in einer Rechtsmittelbelehrung hinzuweisen. Die Belange der Beteiligten sind hinreichend gewahrt, wenn mitgeteilt wird, daß es ein Rechtsmittel gibt und binnen welcher Frist und wo es einzulegen ist. Es ist dann kein unbilliges Verlangen, daß die Beteiligten oder die Bevollmächtigten sich auf Grund der Rechtsmittelbelehrung vergewissern, welche verfahrensrechtlichen Vorschriften bei Einlegung und Begründung des Rechtsmittels zu beachten sind. So entschied z. B. das Bundesverwaltungsgericht (Beschluß vom 14. Oktober 1960 - I B 127/60, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1960 S. 897), vor dem sich jeder Beteiligte durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule als Bevollmächtigtem vertreten lassen muß (§ 67 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -), daß die Rechtsmittelbelehrung keinen Hinweis auf den Vertretungszwang zu enthalten brauche. Dann ist erst recht eine Belehrung über die Frist zur Begründung der Rb. nicht erforderlich. Denn während eine beim Bundesverwaltungsgericht unter Nichtbeachtung des Vertretungszwanges eingelegte Revision als unzulässig zu verwerfen ist, muß über die Rb. auch dann sachlich entschieden werden, wenn ihre Begründung verspätet oder nicht eingeht, weil die Rb. nicht begründet zu werden braucht (§ 289 Abs. 1 Satz 1 AO).

Zwar vertrat der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluß vom 5. Juli 1957 - GrSen 1/57, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwGE - Bd. 5 S. 178) in Auslegung des § 21 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGG) die Ansicht, in der Belehrung über die Möglichkeit, Revision einzulegen, müsse, damit die Revisionsfrist in Lauf gesetzt werden, auch auf die Revisionsbegründungsfrist hingewiesen werden. Diese Meinung wird auch für die §§ 58 und 139 VwGO, die die bezeichneten Bestimmungen des BVerwGG ablösten, im verwaltungsgerichtlichen Schrifttum allgemein vertreten (siehe Kommentare zur Verwaltungsgerichtsordnung von Eyermann-Fröhler, 3. Aufl., Tz. 18 zu § 139; Koehler, Anm. IV 3 zu § 139; Schunck - de Clerk, Anm. 3 a, aa zu § 139). Der Senat kann sich dieser Ansicht für die Auslegung des § 246 Abs. 3 und des § 258 Abs. 1 Satz 2 AO, die im übrigen im Wortlaut nicht völlig mit den genannten verwaltungsgerichtlichen Verfahrensvorschriften übereinstimmen, aus den dargelegten Gründen nicht anschließen.

Auf den Ablauf der Begründungsfrist hat es auch keinen Einfluß, daß es in den vom Finanzamt erteilten Rechtsmittelbelehrungen hieß, die Rechtsbeschwerdefrist müsse in dreifacher Ausfertigung eingereicht werden. Dieser im Gesetz nicht vorgesehene Zusatz, der sich nur auf die Einlegung der Rb. bezieht, könnte auch für den Ablauf der Begründungsfrist bedeutsam sein, weil diese erst mit dem Ablauf der Beschwerdefrist beginnt (§ 289 Abs. 2 Satz 2 AO), man also unter Umständen den Standpunkt vertreten könnte, wenn die Einlegungsfrist nicht zu laufen begonnen habe, könne sie auch nicht ablaufen und mithin die Begründungsfrist nicht beginnen. Die Belehrungen waren indessen nicht "unrichtig" im Sinne des § 246 Abs. 3 AO. Denn der Zusatz zu den im übrigen ordnungsmäßigen Rechtsmittelbelehrungen, die Rb. sei in dreifacher Ausfertigung einzulegen, war nicht geeignet, beim Steuerpflichtigen einen Irrtum herbeizuführen, durch den sein Rechtsschutz hätte beeinträchtigt werden können. (Ebenso Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Mai 1958 - I C 115/56, Die öffentliche Verwaltung - DöV - 1958 S. 502, und vom 6. Oktober 1959 - V C 393/57, Bayerische Verwaltungsblatt 1960 S. 55, sowie des Bundessozialgerichts vom 12. Februar 1964 - 10/11 RV 1216/61, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1964 S. 1046. Die entgegenstehende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. August 1958 - III C 256/57, DVBl 1959 S. 34, wurde inzwischen aufgegeben - vgl. DöV 1958 S. 502, und BVerwGE Bd. 6 S. 66.)

In den Ausführungen des Bevollmächtigten des Bf. in den Rechtsbeschwerdeschriften, er werde eine ausführliche Begründung innerhalb angemessener Frist nachreichen, hierfür jedoch wegen des Umfangs der Sache eine gewisse Zeit benötigen, sind keine Anträge auf Verlängerung der Fristen zur Begründung der Rbn. zu erblicken. Solche Anträge müssen besonders bei einem Rechtsanwalt als prozessuale Erklärungen, deren genaue Abfassung nicht die geringste Schwierigkeit bereitet, ohne weiteres erkennen lassen, was begehrt wird. Das ist hier nicht der Fall.

Nachsicht wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Rbn. kann dem Bf. nicht gewährt werden. Zwar kommt die Gewährung von Nachsicht auch bei Versäumung der Frist zur Begründung der Rb. in Betracht, weil die Begründungsfrist als eine Rechtsmittelfrist im weiteren Sinne anzusehen ist (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs Gr.S. 5/21 vom 19. Dezember 1921, Slg. Bd. 7 S. 309 (314)). Die vom Bf. vorgetragene, oben wiedergegebene und sehr allgemein gehaltene Begründung für den Nachsicht-Antrag ist aber nicht ausreichend. Da der Antrag auf ein Versehen im Büro des Verfahrensbevollmächtigten, eines Anwalts, gestützt ist, hätte mindestens vorgetragen werden müssen, daß der Bevollmächtigte eine ein Versehen nach Möglichkeit ausschließende Organisation geschaffen, daß er die Durchführung seiner Anordnung überwacht und daß er zuverlässige Angestellte sorgfältig ausgewählt habe.

Da Nachsicht schon aus diesem Grunde nicht gewährt werden kann, braucht nicht untersucht zu werden, ob die vom Bf. angeführten Tatsachen nicht auch innerhalb der Frist zur Einreichung des Nachsicht-Antrags durch eine Erklärung der Angestellten hätten glaubhaft gemacht werden müssen (§ 87 Abs. 2 Satz 1 AO), weil auch ihre Handlungen für das Versäumnis ursächlich gewesen sein sollen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 49/59 vom 24. Januar 1963, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963 S. 224).

Ein Grund für die Gewährung von Nachsicht ist schließlich auch nicht darin zu erblicken, daß das Finanzgericht auf die äußerungen des Bevollmächtigten des Bf. in den Rechtsbeschwerdeschriften, er werde die Begründung innerhalb einer angemessenen Frist nachreichen, dafür jedoch wegen des Umfangs der Sache eine gewisse Zeit benötigen, nicht antwortete. Denn selbst, wenn der Anwalt des Bf. ordnungsmäßige Anträge auf Verlängerung der Begründungsfristen gestellt und vom Finanzgericht keine Antwort erhalten hätte, hätte er rechtzeitig prüfen müssen, ob seinen Anträgen entsprochen worden war, und andernfalls für eine fristgemäße Begründung der Rbn. sorgen müssen (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 11. März 1964 - VIII ZB 5/64, Versicherungsrecht 1964 S. 635).

 

Fundstellen

Haufe-Index 411499

BStBl III 1965, 234

BFHE 81, 651

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