Leitsatz (amtlich)

Zur Frage 1. ob Waisengelder, die aufgrund privatrechtlicher Vereinbarungen des Erblassers mit seinem Arbeitgeber gezahlt werden, der Erbschaftsteuer unterliegen, 2. ob die Versorgungsfreibetragsregelung des § 17 Abs. 2 ErbStG 1974 mit dem GG im Einklang steht.

 

Normenkette

ErbStG 1974 § 3 Abs. 1 Nr. 4, § 17 Abs. 1

 

Tatbestand

Der minderjährige Antragsteller ist Erbe nach seinem 1974 gestorbenen Vater (Erblasser) zu einem Viertel. Im Erbschaftsteuerbescheid hat der Antragsgegner (das Finanzamt - FA -) neben dem anteiligen (negativen) Nachlaßwert auch den Kapitalwert eines Waisengeldes von jährlich 13 800 DM (= 153 787 DM) erfaßt, das dem Antragsteller aufgrund einer Ruhegehaltsvereinbarung des Erblassers mit seinem Arbeitgeber zusteht. Nach Abzug des allgemeinen Freibetrages in Höhe von 90 000 DM und des wegen einer Waisenrente aus der Angestelltenversicherung von 40 000 DM auf 10 019 DM gekürzten Versorgungsfreibetrages hat das FA eine Erbschaftsteuer von 1 550 DM festgesetzt.

Der Antragsteller hat Sprungklage erhoben und ersatzlose Aufhebung des Erbschaftsteuerbescheids beantragt. Das vom Arbeitgeber seines Vaters gezahlte Waisengeld unterliege nicht der Erbschaftsteuer. Über die Klage ist noch nicht entschieden. Der Antrag, die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides auszusetzen, ist vom Finanzgericht (FG) abgelehnt worden.

 

Entscheidungsgründe

Die vom FG zugelassene Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Sie führt zur Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Erbschaftsteuerbescheides.

Es ist ernstlich zweifelhaft, ob der angefochtene Steuerbescheid rechtmäßig ist.

Das FA ist in dem angefochtenen Steuerbescheid davon ausgegangen, daß das vertraglich vereinbarte Waisengeld gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) 1974 der Erbschaftsteuer unterliegt. Diese Auffassung steht im Einklang mit der Auffassung, die die Bundesregierung bei Vorlage des Entwurfes eines Erbschaftsteuergesetzes zu dieser Frage vertreten hat (vgl. Bundestags-Drucksache VI/3418, S. 70 zu § 17). Es bleibt aber im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob in Fällen der vorliegenden Art auf seiten des Empfängers der Versorgungsrente ein Vermögensvorteil gegeben ist. Zwar liegen die Verhältnisse bei Waisen insofern anders als bei dem überlebenden Ehegatten, der zu Lebzeiten des Erblassers den gemeinsamen Haushalt geführt hat (vgl. hierzu den Beschluß des Senats vom 12. April 1978 II B 45/76, BFHE 124, 574, BStBl II 1978, 400). Es ist aber nicht zu verkennen, daß die Waisenversorgung wirtschaftlich das Äquivalent für den mit dem Tode des Erblassers wegfallenden Unterhaltsanspruch ist (vgl. hierzu die Motive zum BGB Bd. IV S. 711, Protokolle zum BGB, Bd. IV S. 526) und daß die Gewährung gesetzlichen Unterhalts nicht der Erbschaftsteuer (Schenkungsteuer) unterliegt und freiwillige Unterhaltszahlungen unter Lebenden in angemessener Höhe von der Steuer befreit sind. Eine abschließende Antwort auf die aufgeworfene Frage läßt sich bei einer summarischen Prüfung im Vollziehungsaussetzungsverfahren nicht gewinnen.

Sollte allerdings die Frage zu bejahen sein, ob vertraglich vereinbarte Waisengelder nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG 1974 der Erbschaftsteuer unterliegen, so stellt sich die weitere Frage, ob die Versorgungsfreibetragsregelung des § 17 Abs. 2 ErbStG 1974 mit dem Grundgesetz (GG), insbesondere mit seinen Art. 3, 6, 20 Abs. 1 (Sozialstaatsprinzip) zu vereinbaren ist. Hieran bestehen erhebliche Zweifel, wenn berücksichtigt wird, daß Waisengelder, die an die Kinder von sozialversicherten Personen sowie an die Kinder von Beamten, Richtern und Soldaten gezahlt werden, ohne Rücksicht auf ihre Höhe nicht der Erbschaftsteuer unterliegen und der Kapitalwert dieser Waisengelder bereits 1974, dem Jahr des Inkrafttretens des neuen Erbschaftsteuergesetzes, die entsprechenden Versorgungsfreibeträge übersteigen konnte, wie nachfolgendes Beispiel zeigt:

1974 stirbt unter Hinterlassung minderjähriger Kinder ein Angestellter, der bei seinem Tode noch nicht in den Rentenbezug eingetreten war. Seine Rente hätte zu diesem Zeitpunkt 75 v. H. der individuellen Rentenbemessungsgrundlage betragen, die den Höchstbetrag des § 32 Abs. 1 Halbsatz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erreicht haben mag. Daraus ergibt sich folgende Berechnung:

Altersrente 75 v. H. von 29 740 DM = 22 305,- DM

Halbwaisenrente 1/10 von 22 305 DM = 2 230,50 DM

zuzüglich Kinderzuschuß

(1/10 der allgemeinen Bemessungs-

grundlage von 14 870 DM) = 1 487,- DM

zusammen 3 717,50 DM

Vollwaisenrente 1/5 von 22 305 DM = 4 461,- DM

zuzüglich Kinderzuschuß = 1 487,- DM

zusammen 5 948,- DM

Wird angenommen, daß das Waisengeld bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gezahlt wird (vgl. § 44 Abs. 1 AVG), so ergeben sich für die Ermittlung des Kapitalwertes der Waisengelder folgende Vervielfacher (vgl. hierzu Rössler/Troll/Langner, Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 10. Aufl., § 13 BewG Anm. 3, Tabelle auf S. 178):

Alter des Kindes 1 Jahr = 13,544

Alter des Kindes 6 Jahre = 11,954

Alter des Kindes 11 Jahre = 9,875

Alter des Kindes 16 Jahre = 7,159

Alter des Kindes 21 Jahre = 3,610

In allen diesen Fällen errechnet sich bereits beim Halbwaisengeld ein Kapitalwert, der den jeweiligen Versorgungsfreibetrag übersteigt. Beim Vollwaisengeld deckt der jeweilige Versorgungsfreibetrag nicht einmal die Hälfte des Kapitalwertes des Waisengeldes.

Daraus ergibt sich, daß bereits 1974 eine Ungleichbehandlung der Waisengelder nach den Sozialversicherungsgesetzen und der auf privatrechtlicher Grundlage gezahlten Waisenrenten eintreten konnte, vorausgesetzt, die Steuerpflicht dieser Renten wird bejaht. Die Ungleichbehandlung wird noch dadurch verstärkt, daß, ausgehend vom verbleibenden Nettobetrag, einer Sozialversicherungsrente jeweils eine entsprechend höhere Rente auf privatrechtlicher Grundlage vergleichbar ist, weil letztere regelmäßig noch mit Lohnsteuer und Lohnkirchensteuer belastet ist. Seit 1974 hat sich die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Renten infolge Anstiegs des Höchstbetrages der individuellen Rentenbemessungsgrundlage noch verschärft.

Vergleicht man die auf privatrechtlicher Grundlage gezahlten Waisenrenten mit den Waisengeldern, die an Waisen von Beamten, Richtern und Soldaten gezahlt werden, so wird die Ungleichbehandlung noch größer, wenn die Waisengelder in die Betrachtung einbezogen werden, die an die Waisen von Angehörigen des höheren Dienstes in höheren Gehaltsstufen zu zahlen sind. Dies zeigt das nachfolgende Beispiel:

Der Erblasser, der 1974 im aktiven Dienst gestorben ist, gehörte der Besoldungsgruppe B 11 an. Er hinterließ zwei minderjährige Kinder. Seine Dienstbezüge setzten sich wie folgt zusammen:

Grundgehalt (monatlich) 8 159,19 DM

Ortszuschlag nach Stufe 4 745,92 DM

8 905,11 DM

Daraus hätte sich, den höchstmöglichen Ruhegehaltssatz von 75 v. H. unterstellt, ein Ruhegehalt von 6 678,83 DM ergeben.

Das Halbwaisengeld betrüge danach monatlich 12 v. H. = 801,46 DM, ein Vollwaisengeld 20 v. H. = 1 335,77 DM. Die entsprechenden Jahresbeträge (jeweils das 13fache) belaufen sich auf 10 418,98 DM bzw. 17 365,01 DM. Dabei sind die Kinderzuschläge unberücksichtigt geblieben.

Die Kapitalwerte dieser Waisengelder, die nicht der Erbschaftsteuer unterliegen, können bei Anwendung der entsprechenden Vervielfacher ein Mehrfaches der Versorgungsfreibeträge ausmachen. Auch hier hat sich die Rechtslage durch die Erhöhung der Dienstbezüge in den Jahren nach 1974 noch verschärft.

Eine ungleiche Behandlung ist auch hinsichtlich der Waisengelder festzustellen, die an gebrechliche Waisen gezahlt werden. Die z. B. an Waisen von Beamten, Richtern und Soldaten gezahlten Waisengelder unterliegen nicht der Erbschaftsteuer. Wird angenommen, daß die auf privatrechtlicher Grundlage gezahlten Waisengelder der Erbschaftsteuer unterliegen, so können gebrechliche Waisen nach dem Gesetz nur einen Freibetrag bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres erhalten, obwohl im Einzelfall die Vereinbarung mit dem Arbeitgeber durchaus dahingehen kann, die Waisengelder entsprechend der beamtenrechtlichen Regelung zu zahlen.

Nach allem ergeben sich erhebliche Zweifel, ob es dem Gesetzgeber gelungen ist, die unterschiedliche erbschaftsteuerliche Behandlung der auf Gesetz beruhenden Waisengelder einerseits und der auf einem privatrechtlichen Anstellungsvertrag beruhenden Waisengelder andererseits im Grundsatz zu beseitigen und gleichzeitig auch denjenigen Hinterbliebenen einen angemessenen Ausgleich zu gewähren, denen aus Anlaß des Todes des Erblassers keine oder nur geringe Versorgungsbezüge zustehen (vgl. Drucksache VI/3418 S. 70 zu § 17), wie er dies angestrebt hat. Diese erheblichen Zweifel, die auch die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides erfassen, gebieten es, die Vollziehung dieses Steuerbescheides auszusetzen.

 

Fundstellen

BStBl II 1979, 244

BFHE 1979, 572

DNotZ 1980, 334

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