Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Anforderungen an die Begründung einer Revision, wenn sie wegen eines Verfahrensmangels zugelassen worden ist; Nichtbeachtung bei Gericht eingegangener Schriftsätze

 

Leitsatz (NV)

1. Ist die Revision wegen eines Verfahrensmangels zugelassen worden und ist dies im Zulassungsbeschluß näher begründet, so können die Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO auch dann erfüllt sein, wenn sich die Revisionsbegründung im wesentlichen in einer Bezugnahme auf den Zulassungsbeschluß erschöpft.

2. Der in Art. 103 Abs. 1 GG normierte Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch dann verletzt, wenn rechtzeitig bei Gericht eingegangene Schriftsätze nicht beachtet worden sind.

 

Normenkette

FGO § 120 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhob gegen den Einkommensteuerbescheid für 1988 (Streitjahr) nach erfolglosem Vorverfahren Klage.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ am 14. Mai 1992 - während des Klageverfahrens - einen Änderungsbescheid. Die Klägerin erklärte diesen Bescheid mit Schriftsatz vom 15. Januar 1993 (eingegangen beim Finanzgericht - FG - am selben Tage) nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens.

Das FG wies die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung vom 18. Januar 1993 (gleichwohl) als unzulässig ab. Es begründete seine Entscheidung damit, daß der ursprünglich angefochtene Bescheid gegenüber der Klägerin keine Wirkung mehr entfalte; er sei in den Änderungsbescheid mit aufgenommen worden. Dieser sei jedoch nicht angefochten, da er nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sei.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ließ das FG mit Beschluß vom 9. Juni 1993 die Revision gegen sein Urteil zu. Es begründete diese Entscheidung damit, daß bei der Urteilsfindung der Schriftsatz der Klägerin vom 15. Januar 1993 nicht berücksichtigt worden sei. Darin liege eine Verletzung des rechtlichen Gehörs i.S. des § 119 Nr. 3 FGO.

Mit der Revision wendet sich die Klägerin in erster Linie gegen die materielle Richtigkeit des angefochtenen Bescheides. Abschließend weist sie noch darauf hin, daß das FG wegen nicht berücksichtigtem Sachvortrag ein abweisendes Urteil rein auf formaler Basis erlassen habe. Für den Fall, daß der Bundesfinanzhof (BFH) die Sachaufklärung vor dem FG für erforderlich halte, habe sie den Antrag zu 1b gestellt.

Die Klägerin beantragt insbesondere,

a) unter Abänderung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides für das Jahr 1988, auch in Form der Einspruchsentscheidung vom 9. Januar 1991, ergänzt durch das angefochtene Urteil hier, die Einkommensteuer für das Jahr 1988 mit 0 DM festzusetzen;

b) hilfsweise: Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Angelegenheit zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Entgegen der Auffassung des FA genügt die Revisionsbegründung bei Berücksichtigung der Besonderheiten des Streitfalles noch den Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO. Die Klägerin hat eingangs der Rechtsmittelschrift auf den Zulassungsbeschluß des FG vom 9. Juni 1993 verwiesen und weiter u.a. ausgeführt, daß das FG wegen nicht berücksichtigtem Sachvortrag die Klage aus formellen Gründen abgewiesen habe.

Damit ist für den Senat noch hinreichend erkennbar, daß die Klägerin auch die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, §§ 96 Abs. 2 und 119 Nr. 3 FGO) rügen wollte. Die Bezeichnung einer bestimmten Rechtsnorm ist durch § 120 Abs. 2 FGO nicht unbedingt geboten (s. hierzu Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 120 Rdnr. 31). Dies gilt im Streitfall um so mehr, als das FG als Grund für die Zulassung der Revision gerade die Verletzung des rechtlichen Gehörs i.S. des § 119 Nr. 3 FGO genannt hat.

Im Hinblick darauf genügt die von der Klägerin gegebene Revisionsbegründung auch noch dem Zweck des § 120 Abs. 2 FGO, nämlich das Revisionsgericht zu entlasten und den Revisionskläger zu zwingen, Inhalt, Umfang und Zweck des Revisionsangriffs klarzustellen (s. dazu Ruban, a.a.O., § 120 Rdnr. 32).

2. Die Revision der Klägerin ist auch begründet.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG normierte Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht berücksichtigt hat. Das gilt auch, wenn rechtzeitig bei Gericht eingegangene Schriftsätze nicht beachtet worden sind (Ruban, a.a.O., § 119 Rdnr. 15 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 15. Januar 1993, der am selben Tage bei Gericht eingegangen ist, beantragt, den Änderungsbescheid vom 14. Mai 1992 nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Das FG hat diesen Schriftsatz in seinem Urteil vom 18. Januar 1993 - aus welchen Gründen auch immer - nicht berücksichtigt.

Da es sich bei der Verletzung des rechtlichen Gehörs um einen absoluten Revisionsgrund handelt (§ 119 Nr. 3 FGO), muß die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen werden. Der Ausnahmefall, daß es auf den festgestellten Verfahrensverstoß unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen kann und deshalb von einer Zurückverweisung an das FG abzusehen ist (s. hierzu Ruban, a.a.O., § 119 Rdnr. 14), liegt hier nicht vor. Bei Berücksichtigung des Schriftsatzes der Klägerin vom 15. Januar 1993 kann deren Klage nicht mehr wegen fehlenden Verfahrensgegenstandes als unzulässig abgewiesen werden. Denn der Antrag nach § 68 FGO war im Streitfall noch nicht gemäß Satz 2 der Neufassung dieser Vorschrift durch das FGO-Änderungsgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2109) fristgebunden (s. hierzu z.B. von Groll in Gräber, a.a.O., § 68 Rdnr. 3a).

Das FG wird nunmehr den Einwendungen der Klägerin gegen die materielle Richtigkeit des angefochtenen Bescheides in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 14. Mai 1992 nachzugehen haben.

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 876

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