Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßkostenhilfe; mutwillige Rechtsverfolgung; Aufforderung zur Versicherung an Eides Statt; Ermessensausübung; Nachweis des Zugangs eines Grunderwerbsteuerhaftungsbescheids

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Rechtsverfolgung erscheint mutwillig, wenn ein verständiger, ausreichend bemittelter Beteiligter von einer Klage absehen würde.

2. Das FA darf, um den ihm obliegenden Nachweis des Zugangs eines Haftungsbescheids zu führen, den Beteiligten auffordern, die Richtigkeit seiner Behauptung, er habe den Haftungsbescheid nicht erhalten, an Eides Statt zu versichern. Dabei muß es indes die Ermessensgrenze des § 95 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 beachten.

3. Auch im Beschwerdeverfahren darf der BFH eine Sache an das FG zurückverweisen.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 5, 95, 122 Abs. 2; FGO § 142 Abs. 1, § 155; ZPO §§ 114, 575

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Der Kläger beantragte am 5. April 1984 beim Finanzgericht (FG), ihm Prozeßkostenhilfe (PKH) zu bewilligen für seine 1983 erhobene Klage auf Aufhebung des Haftungsbescheids vom 22. Mai 1981 über 37 100 DM Grunderwerbsteuer und 1 013 DM Säumniszuschlag.

Das Streitverhältnis ist folgendes:

Der Kläger war bis Februar 1981 Geschäftsführer einer GmbH. Diese - vertreten durch den Kläger - hatte 1980 ein Grundstück für 650 000 DM gekauft. Für diesen Erwerbsvorgang hatte das Finanzamt (FA) 37 100 DM Grunderwerbsteuer festgesetzt. Da die GmbH die Grunderwerbsteuer nicht entrichtete, erließ das FA am 22. Mai 1981 einen Haftungsbescheid gegen den Kläger. Dieser hafte für die 37 100 DM Grunderwerbsteuer und 1 013 DM Säumniszuschlag, weil er es pflichtwidrig unterlassen habe, dem FA anzuzeigen, daß die GmbH das erworbene Grundstück 1981 weiterverkauft und dadurch die Nacherhebung der Grunderwerbsteuer gemäß § 3 des Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau NW ausgelöst habe. Am 1. Juli 1981 mahnte das FA den Kläger, die 1 013 DM Säumniszuschlag auf die rückständige Grunderwerbsteuer 1981 zu entrichten. Der Kläger hielt dies für einen Irrtum und sandte die Mahnung zurück. Als er 1983 über seinen Rechtsanwalt R erfuhr, daß am 22. Mai 1981 ein Grunderwerbsteuerhaftungsbescheid gegen ihn ergangen sei, legte er Einspruch ein und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Er sei verhindert gewesen, die Frist einzuhalten, weil er erst 1983 durch einen öffentlichen Aushang im Rathaus der Stadt S erfahren habe, daß noch ,,steuerrechtliche Gegebenheiten . . . zu regeln" waren und erst die dadurch veranlaßte Erkundigung seines Rechtsanwalts beim FA im Februar 1983 ihm die Kenntnis von dem Grunderwerbsteuerhaftungsbescheid vermittelt habe. Er bestreite mit Nichtwissen, daß der Haftungsbescheid am 22. Mai 1981 durch einfachen Brief an ihn zur Post gegeben worden sei. Tatsache sei, daß ihm ein solcher Brief ,,zu keiner Zeit zugestellt" worden sei.

Mit Schreiben vom 13. Juni 1983 forderte das FA den Kläger auf, gemäß § 95 der Abgabenordnung (AO 1977) die Richtigkeit seiner Behauptung, er habe im Jahre 1981 einen Haftungsbescheid über Grunderwerbsteuer nicht erhalten, an Eides Statt zu versichern und zur Abgabe dieser Erklärung beim FA zu erscheinen. Der Kläger befolgte diese Aufforderung nicht; statt dessen ließ er am 22. Juni 1983 durch seinen Prozeßbevollmächtigten die schriftliche Erklärung übermitteln, er könne sich nicht erinnern, 1981 einen Grunderwerbsteuerhaftungsbescheid erhalten zu haben; erst auf Grund der von seinem Prozeßbevollmächtigten angeforderten Informationen sei er vom Bestehen jenes Haftungsbescheids in Kenntnis gesetzt worden. Das versichere er an Eides Statt.

Das FA verwarf den Einspruch. Er sei unzulässig, weil er nicht fristgerecht eingelegt worden sei und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist dem Kläger nicht gewährt werden könne. Das FA ging davon aus, der Haftungsbescheid sei dem Kläger zugegangen. Dies schloß es im wesentlichen aus der Tatsache, daß der Kläger die Aufforderung nicht befolgt hatte, vor dem FA zu erscheinen und die Richtigkeit der von ihm behaupteten Tatsache an Eides Statt zu versichern.

Mit seiner Klage hat der Kläger begehrt, die Einspruchsentscheidung und den Haftungsbescheid aufzuheben. Er hat beantragt, ihm PKH zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt R zur Vertretung beizuordnen. Das FG hat den Antrag durch Beschluß vom 5. Juli 1985 abgelehnt. Die Rechtsverfolgung erscheine mutwillig. Gegen den Beschluß des FG hat der Kläger - vertreten durch den Rechtsanwalt R als Bevollmächtigten - Beschwerde eingelegt. Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Aufgehoben werden muß der angefochtene Beschluß, weil die Erwägungen des FG nicht den Beschluß rechtfertigen, die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheine mutwillig, d. h. ein verständiger, ausreichend bemittelter Beteiligter würde von einer Klage abgesehen haben. Das FG stützt seine Ansicht auf folgende Erwägungen: Der Kläger habe dadurch, daß er den Zugang des Haftungsbescheids überhaupt bestreite, die gesetzliche Vermutung des § 122 Abs. 2 AO 1977 erschüttert, so daß das FA den Zugang des Bescheids nachzuweisen habe. Hierzu dürfe es sich aller Beweismittel bedienen, dürfe z. B. auch eine Versicherung an Eides Statt vom Kläger fordern. Dies müsse ihm gerade im Streitfalle zugestanden werden, da es andere Mittel zur Erforschung der Wahrheit nicht habe, ,,denn der . . . Nichtzugang eines mit der Post durch einfachen Brief versandten Bescheides" sei ,,eine Tatsache, die letztlich nur der Adressat bekunden" könne. Ein verständiger, ausreichend bemittelter Bürger würde ,,dem Verlangen des FA nach Abgabe einer formellen eidesstattlichen Versicherung . . . nachgekommen sein und das FA damit in den Stand gesetzt haben, den Nichtzugang des Bescheides ohne weitere Überlegung anzuerkennen", so daß die Klage ,,durchaus vermeidbar gewesen" wäre.

Diesen Erwägungen kann der beschließende Senat nicht zustimmen. Auf Grund des bisher erkennbaren Sachverhalts ist davon auszugehen, daß auch ein verständiger, ausreichend bemittelter Beteiligter Klage erhoben hätte. Denn die Einspruchsentscheidung ist insofern fehlerhaft, als das FA davon ausgegangen ist, der Kläger habe den Haftungsbescheid erhalten und dies im wesentlichen geschlossen hat aus der Tatsache, daß der Kläger die Aufforderung nicht befolgt hatte, beim FA zu erscheinen und die Richtigkeit der von ihm behaupteten Tatsache an Eides Statt zu versichern. Fehlerhaft ist dieser Ausgangspunkt deshalb, weil jene Aufforderung rechtswidrig war: Sie gab keinen Aufschluß über die Ermessenserwägungen des FA, ließ insbesondere nicht erkennen, ob die gesetzliche Ermessensgrenze des § 95 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 eingehalten worden war (§ 5 AO 1977). Nach dieser Vorschrift soll ,,eine Versicherung an Eides Statt nur gefordert werden, wenn andere Mittel zur Erforschung der Wahrheit nicht vorhanden sind, zu keinem Ergebnis geführt haben oder einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern". Der Staatsbürger, in dessen Rechte eingegriffen wird, hat aber einen Anspruch darauf, die Gründe dafür zu erfahren; denn nur dann kann er seine Rechte sachgemäß verteidigen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, 2, BStBl II 1981, 493, unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Januar 1957 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 44). Von einer Begründung hätte das FA ausnahmsweise absehen können, wenn z. B. der Kläger schon aus anderen Mitteilungen des FA mit einer jeden Zweifel ausschließenden Deutlichkeit hätte erkennen können, daß ,,andere Mittel zur Erforschung der Wahrheit . . . zu keinem Ergebnis geführt haben". Indes ist den dem beschließenden Senat vorliegenden Akten nicht zweifelsfrei zu entnehmen, daß das FA z. B. geprüft hat, ob, wann und durch wen der Grunderwerbsteuerhaftungsbescheid an den Kläger zur Post aufgegeben worden ist, ob er richtig adressiert war, und welches Ergebnis diese Prüfung hatte. Hierzu hätte im Streitfall aus folgenden Gründen besondere Veranlassung bestanden: Aus der in der FA-Akte enthaltenen Verfügung über den Haftungsbescheid vom 22. Mai 1981 ist zu ersehen, daß der Bescheid gerichtet war an ,,Herrn . . .". Demgegenüber geht aus der vom Kläger im Beschwerdeverfahren vorgelegten Fotokopie eines Berichts über die Lohnsteuer-Außenprüfung bei der GmbH (i. L.) hervor, daß die erwähnte Straße und Hausnummer den Sitz der Geschäftsleitung der GmbH bezeichnete, wogegen der Kläger und ehemalige Geschäftsführer der GmbH in der X-Straße in S wohnte. Nr. 4 der Verfügung (,,Absendung von Reinschrift . . . zur Post am . . .") ist durchgestrichen. Beigefügt ist ein mit Namenszeichen versehener roter Stempelaufdruck ,,Geprüft und weitergeleitet am 23. 6. 81". Ferner ist handschriftlich vermerkt: ,,erneut eingeben".

2. Die Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Entscheidung ist auch im Beschwerdeverfahren zulässig (§ 155 der Finanzgerichtsordnung - FGO -, § 575 der Zivilprozeßordnung; BFH-Beschlüsse vom 5. Februar 1975 II B 29/74, BFHE 115, 12, 17, BStBl II 1975, 465, und vom 31. Mai 1972 II B 34/71, BFHE 105, 337, 339, BStBl II 1972, 576). Der beschließende Senat erachtet sie im vorliegenden Falle für zweckmäßig, weil es für die Beteiligten einfacher und zeitsparender ist, wenn erst das FG die Sach- und Rechtslage unter Beachtung der obigen Ausführungen und etwa erforderlicher Beiziehung weiterer Akten (insbesondere der Vollstreckungsakte) prüft.

 

Fundstellen

BFH/NV 1986, 591

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