rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Hinweispflicht nach § 89 S. 1 AO bei offenkundiger Unvollständigkeit der Steuererklärung als Wiedereinsetzungsgrund

 

Leitsatz (amtlich)

Sind die Angaben in einer Steuererklärung (hier: Angaben zu den Kindern) offenkundig unvollständig, so obliegt dem Finanzamt auch bei steuerlich beratenen Steuerpflichtigen eine Hinweispflicht. Bei Verstoß steht dem Steuerpflichtigen ein Anspruch darauf zu, so gestellt zu werden, als wäre der gebotene Hinweis erteilt worden. Im Rechtsbehelfsverfahren ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

 

Normenkette

AO 1977 § 89 S. 1, § 91 Abs. 1 S. 2, § 126 Abs. 3 S. 1; BGB § 162 Abs. 2, § 242; AO 1977 § 110 Abs. 1 S. 1; EStG 1990 § 32 Abs. 6

 

Tatbestand

Der am 29.01.1923 geborene Kläger ist seit dem 26.11.1974 geschieden und hat eine am 11.03.1966 geborene Tochter, die bis August 1980 eine Lehre bei der Fa. … in … absolvierte und danach ein Studium an der Fachhochschule … aufnahm; die Mutter lebt in … Belgien, die Tochter, in … Bei den Einkommensteuerveranlagungen der Vorjahre wurde jeweils ein Kinderfreibetrag berücksichtigt, nicht aber im Streitjahr 1990.

Auf den Einkommensteuerbescheid für 1990 vom 04.04.1991,

  • nach § 129 AO hinsichtlich der Kirchensteuer geändert durch Bescheid vom 12.06.1991,
  • erneut nach § 129 AO wegen fehlenden Altersfreibetrags geändert durch Bescheid vom 12.07.1990 wird Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 11.09.1991 legte der Kläger wegen der Nichtberücksichtigung des Kinderfreibetrags Einspruch ein und trug vor, da die Abweichung von der Steuererklärung nicht erläutert worden sei, müsse der Einspruch als rechtzeitig behandelt werden. Der Beklagte wandte dagegen ein, nach den Zeilen 44 und 45 der Einkommensteuererklärung sei der Abzug des vollen Kinderfreibetrags nicht beantragt worden; demgemäß sei der Beklagte nicht von der Steuererklärung abgewichen und habe dies nicht begründen müssen.

Der Einspruch wurde durch Entscheidung des Beklagten vom 29.11.1991 als unzulässig verworfen, auf deren Inhalt verwiesen wird. Dann führte der Beklagte aus, der Wohnort der Tochter sei mit … angegeben, der der Mutter mit …/Belgien; der Beklagte habe davon ausgehen müssen, daß es sich um denselben Wohnort gehandelt habe und die Tochter ebenfalls nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen sei, so daß ein Kinderfreibetrag (nach § 32 Abs. 2 EStG) nach den Eintragungen des Klägers nicht zu gewähren gewesen sei. Dafür, daß der Kläger auch keinen Abzug eines Kinderfreibetrages begehrt habe, habe auch gesprochen, daß der Kläger keinen Ausbildungsnachweis beigefügt habe. Daß der Kläger mit „…” nicht …, sondern … gemeint habe, könne nicht zu Lasten des Beklagten gehen. Erst recht sei nicht der Abzug des vollen Kinderfreibetrags beantragt worden, da die Zeilen 44 ff. des Mantelbogens der Einkommensteuererklärung unausgefüllt geblieben seien.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Der Kläger meint, es sei nicht nachvollziehbar, daß die Abkürzung „…” als … gedeutet worden sei, weil unter Zeile 30 des Erklärungsvordrucks „Angaben zu Kindern mit Wohnsitz im Inland” gemacht worden seien; auch der Ausbildungsfreibetrag sei schließlich an die unbeschränkte, Steuerpflicht gebunden. Der Beklagte hätte durch einen Blick in die Akte den Sachverhalt aufklären können.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorliegenden Einkommensteuererklärungen für 1987 bis 1990 verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Einspruchsentscheidung aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1990 zu berücksichtigen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der Rechtsauffassung des Beklagten wird auf den Schriftsatz vom 19.03.1992 Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

I. Der Beklagte hat den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1990 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Denn im Gegensatz zu der Rechtsauffassung des Beklagten sind im vorliegenden Falle die Voraussetzungen des § 126 Abs. 3 Satz 1 AO erfüllt, so daß die Versäumung der Einspruchsfrist als nicht verschuldet gilt und dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO hätte gewährt werden müssen.

1. Sowohl die vor Erlaß des Einkommensteuerbescheids 1990 gemäß § 91 Abs. 1 Satz 2 AO erforderliche Anhörung des Klägers als auch die gemäß § 121 Abs. 1 AO erforderliche Begründung hinsichtlich der Abweichung von der Steuererklärung ist unterblieben, weil dem Beklagten nicht bewußt geworden ist, daß überhaupt eine solche Abweichung im Streitfall vorliegt; noch in seiner Klageerwiederung verneint der Beklagte das Abweichen von Steuererklärung und Steuerbescheid. Der Kläger hat jedoch in seiner Steuererklärung Angaben zu einem „Kinde mit Wohnsitz im Inland” gemacht, die der Beklagte, indem er keinen Kinderfreibetrag gewährte, nicht berücksichtigt hat; hierin liegt die Abweichung von der Steuererklärung. Für eine Abweichung ist nämlich nicht entscheidend, welchen Inhalt der Beklagte...

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