Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.06.1980)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juni 1980 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt die Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 28. Februar 1978 hinaus.

Der 1956 geborene Kläger hat das Zimmerhandwerk erlernt und war bis Ende 1967 in diesem Beruf tätig. Er erhielt Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. November 1968 bis 1. Juli 1972 und Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit vom 25. August 1975 bis 29. Februar 1976, die aufgrund eines Vergleichs vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz bis 28. Februar 1978 gezahlt wurde.

Im Dezember 1977 beantragte der Kläger, die Rente über den 28. Februar 1978 hinaus zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. Mai 1978 ab.

Das SG hat den angefochtenen Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. März 1978 Berufsunfähigkeitsrente zu zahlen (Urteil vom 18. September 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 16. Juni 1980 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt:

Der Kläger sei nicht nur nicht erwerbsunfähig, sondern auch nicht berufsunfähig. Ein dem Kläger vergleichbarer Versicherter sei der Berufsgruppe der Facharbeiter zuzuordnen. Dem Kläger seien alle Arbeiten verwehrt, die ein längeres Gehen oder Stehen erforderten oder die mit einer Zwangshaltung verbunden seien. Andererseits könne der Kläger zumindest leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen und in geschlossenen Räumen noch vollschichtig verrichten. Aufgrund der verbliebenen Leistungsfähigkeit könne er solche Arbeiten ausführen, die nach Vergütungsgruppe IX b der Anlage 1a zum Bundesangestelltentarif (BAT) entlohnt würden oder solche, die unter die Lohngruppe V des Manteltarifvertrages für Arbeiter der Länder (MTL II) fielen und die nach dem Monatslohntarifvertrag Nr. 10 zum MTL II entlohnt würden. Es handele sich dabei um Arbeiten der Angestellten im Büro-, Registratur-, Buchhalterei- oder sonstigen Innendienst, die zB für nach Schema zu erledigende Arbeiten, die Postabfertigung, das Führen von Brieftagebüchern und Inhaltsverzeichnissen oder einfachen Verzeichnissen und Kontrollisten eingesetzt würden bzw die Arbeiten an Bürooffsetmaschinen oder als Justizaushelfer. Dies seien Arbeiten einfacher, aber nicht einfachster Art, die der Kläger ohne einschlägige Vorkenntnisse nach weniger als dreimonatiger Einweisung oder Einarbeitung verrichten könne. In Bezug auf die soziale Einordnung sei zu berücksichtigen, daß mit Zeitablauf und Bewährung die Möglichkeit einer Höhergruppierung gegeben sei. Die Beschäftigung in einer Dienststelle des öffentlichen Dienstes biete besondere Sicherheit und auch ein gewisses Ansehen.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Er trägt vor: Er sei bereits 44 Jahre alt. Er habe nicht die geringste Chance, einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst zu erhalten. Der Arbeitsmarkt sei für ihn deshalb insoweit verschlossen.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach den in der Schlußverhandlung 1. Instanz gestellten Anträgen des Klägers zu erkennen.

In 1. Instanz hat der Kläger beantragt,

den Bescheid der LVA Rheinland-Pfalz, Zweigstelle Andernach, vom 22. Mai 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 28.2.1978 (Ablauf der Zeitrente) hinaus zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor:

Der Kläger könne die Tätigkeit, die das LSG ihm aufgezeigt habe, noch ausfüllen, und der Zugang zu solchen Arbeitsplätzen bei öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern stehe ihm auch offen. Der Hinweis des Klägers auf Richtlinien des Bundes und der Länder über eine Beschränkung des Lebensalters für die Einstellung von Bewerbern beziehe sich vermutlich auf beamtenrechtliche Vorschriften. Für Arbeiter seien solche einschränkenden Vorschriften jedoch nicht in Kraft. Das LSG habe den Kläger nicht auf Beamtentätigkeiten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

II

Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen läßt sich eine abschließende Entscheidung noch nicht treffen.

Den von ihm erlernten Beruf des Zimmerers kann der Kläger, wie das LSG festgestellt hat, nicht mehr ausüben. Der Kläger war Facharbeiter. Als solcher darf er auf die Gruppe der „sonstigen Ausbildungsberufe” verwiesen werden (vgl. SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO), darüber hinaus auf ungelernte Tätigkeiten, wenn diese sich aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten durch entsprechende Qualifikation positiv so hervorheben, daß sie den sonstigen Ausbildungsberufen gleichstehen (BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nrn 11, 21). Das LSG hat den Kläger auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst verwiesen, die nach der Vergütungsgruppe IX b der Anlage 1a zum BAT entlohnt werden oder auf solche Tätigkeiten, die unter Lohngruppe V des Manteltarifvertrags der Arbeiter fallen. Es hat dabei die Arbeit der Angestellten im Büro-, Registratur-, Buchhalterei- oder sonstigen Innendienst genannt, die zB für nach Schema zu erledigende Arbeiten, die Postabfertigung, das Führen von Brieftagebüchern und Inhaltsverzeichnissen oder einfachen Verzeichnissen und Kontrollisten eingesetzt werden bzw die Arbeiten an Bürooffsetmaschinen oder als Justizaushelfer. Nach Lohngruppe V MTL II entlohnte Tätigkeiten können zwar denen eines angelernten Arbeiters entsprechen (vgl. BSG SozR § 1246 Nr. 55). Doch hat das LSG zu dieser Frage tatsächliche Feststellungen getroffen, die einen Widerspruch in sich selbst tragen oder jedenfalls nicht ausreichend klar sind oder undeutlich. An solche Tatsachenfeststellungen ist das Revisionsgericht nicht gebunden (BSGE SozR Nr. 6 zu § 163 SGG, BAG NJW 67, 2226). Sie sind nicht geeignet, für die revisionsrichterliche Prüfung die Tatsachenbasis abzugeben. Das LSG hat die in der Anlage 1a zum BAT Vergütungsgruppe IX b genannten sowie einige der in Lohngruppe V des MTL II aufgeführten Tätigkeiten als Beispiele dafür genannt, welche Arbeiten der Kläger noch verrichten könne. Es hat dann aber diese Tätigkeiten einerseits als solche einfacher, wenn auch nicht einfachster Art bezeichnet und angenommen, der Kläger könne die dazu notwendigen Fertigkeiten innerhalb von drei Monaten erwerben, andererseits hat es diese Verrichtungen ihrer Qualität nach als Anlerntätigkeiten gewertet. Es ist auch nicht etwa davon ausgegangen, daß der Kläger besondere Kenntnisse habe, die ihn geeignet machten, diese Arbeiten auszuführen. Es hat vielmehr angenommen, daß der Kläger deshalb die von ihm aufgeführten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst ausführen könne, weil er die für einen Facharbeiter nötige Intelligenz habe. Wenn man aber ohne Vorkenntnisse lediglich aufgrund der zur Ausübung eines Facharbeiterberufes notwendigen Begabung innerhalb von drei Monaten eine berufsfremde Tätigkeit vollwertig ausüben kann, handelt es sich normalerweise gerade um eine Tätigkeit, die unterhalb der Stufe des Anlernberufs liegt. Dieser Widerspruch wird besonders deutlich, soweit das LSG den Kläger darauf verweist, Arbeiten auszuführen, die unter Lohngruppe V des MTL II fallen. Zu dieser Lohngruppe zählen zB Arbeiter mit erfolgreich abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von weniger als 21/2 Jahren, die in ihrem oder einem diesem verwandten Beruf beschäftigt werden. Das Niveau der Arbeiten dieser Lohngruppen liegt also in der Höhe einer Tätigkeit mit „abgeschlossener Ausbildung”, wenn auch die Fähigkeit zu einigen der in Lohngruppe V genannten Arbeiten nicht durch eine abgeschlossene Ausbildung, sondern auf andere Weise, zB entsprechende Erfahrung, erworben werden. Ein Versicherter kann nicht auf eine Tätigkeit verwiesen werden, für die er die notwendigen Fähigkeiten erst noch durch eine Ausbildung oder Umschulung erwerben muß. Bei einem Anlernberuf können, ohne daß eine solche Ausbildung oder Umschulung durchgeführt ist, diese Fähigkeiten allenfalls dann als vorliegend angenommen werden, wenn der Versicherte beispielsweise einen solchen Beruf tatsächlich ausübt oder zumindest früher einmal ausgeübt hat, oder wenn die Fähigkeiten, die er aufgrund eines bisherigen Berufs besitzt, auch für die Ausübung eines Anlernberufs deshalb ausreichen, weil es sich um einen verwandten Beruf handelt (BSG 19, 57, 60, 61 = SozR Nr. 26 zu § 1246 RVO Bl Aa 17). Diesen Widerspruch in den bisherigen Feststellungen wird das LSG zu klären haben.

Das LSG kann den Kläger auch nicht lediglich mit der von ihm in dem angefochtenen Urteil ausgesprochenen Vermutung auf eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst verweisen, der Kläger habe die Aussicht, im Wege des Bewährungsaufstiegs in eine höhere Gruppe zu gelangen. Die Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs verändert den objektiven qualitativen Wert einer Verweisungstätigkeit, auf den es allein ankommt, nicht, sondern eröffnet lediglich aus sozialen Gründen die Möglichkeit einer höheren Entlohnung, die von subjektiven Merkmalen – der Bewährung des einzelnen Inhabers eines solchen Arbeitsplatzes – abhängt (BSG SozR § 1246 Nr. 17). Eine Arbeit, die qualitativ niedriger ist, als sie es nach anerkannten Regeln sein darf, wird einem Versicherten auch nicht deshalb zumutbar, weil andere sie sich zugemutet haben (Urteil des Senats v. 28.11.80 – 5 RJ 50/80 –).

Ob dem Kläger der Arbeitsmarkt hinsichtlich der Tätigkeiten offensteht, auf die es ihn verwiesen hat, kann angesichts der erheblichen Leistungseinschränkungen, auf die beim Kläger Rücksicht zu nehmen ist, unter Umständen ebenfalls zweifelhaft sein. Zwar besteht bei Vollzeittätigkeiten normalerweise kein Anlaß, Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze zu treffen (vgl. BSGE 44, 39 f = SozR 2200 § 1246 Nr. 19, SozR aaO Nrn 22 und 30). Ausnahmen können aber in Betracht kommen, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeit nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes verrichten kann (BSGE 44, 39, 40; BSG SozR 2600 § 45 Nr. 19, Urteil vom 12.9.80 – 5 RJ 98/78).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI925859

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