Entscheidungsstichwort (Thema)

Ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts (Einzelrichter); Fehlen der Entscheidungsgründe

 

Leitsatz (NV)

1. Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter führt nur bei "greifbarer Gesetzwidrigkeit" zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts.

2. Die namentliche Angabe des zuständigen (Einzel-)Richters im Übertragungsbeschluß ist nicht erforderlich.

3. Entscheidungsgründe fehlen, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat. Es muß sich aber um einen wesentlichen Streitpunkt des Verfahrens gehandelt haben.

 

Normenkette

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO §§ 4, 6, 116 Abs. 1 Nrn. 1, 5; GVG § 21g

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eigentümer eines Zweifamilienhauses. Die Wohnung im Erdgeschoß wird von den Klägern selbst genutzt. Die Wohnung im ersten Stock war bis März 1986 vermietet und ist seitdem ungenutzt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) verneinte die Einkünfteerzielungsabsicht für die leerstehende Wohnung und stellte die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des Streitjahres ausgehend von dem Mietwert der selbstgenutzten Wohnung und Werbungskosten in Höhe der Hälfte der erklärten -- das ganze Grundstück betreffenden -- Aufwendungen fest. Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage begehrten die Kläger, die geltend gemachten Aufwendungen in vollem Umfang als Werbungskosten anzusetzen.

Nach einem Hinweis in der Eingangsbestätigung des Finanzgerichts (FG) auf §6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sprachen sich die Kläger gegen eine Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter aus. Die Sache habe grundsätzliche Bedeutung. Die Wohnung im ersten Stock sei seit Jahren wegen Bauschäden nicht mehr bewohnbar. Für die gesamte nutzbare Fläche werde ein Mietwert angesetzt, so daß auch die vollen Aufwendungen abziehbar seien.

Mit Beschluß vom 30. Dezember 1994 übertrug der Senat des FG den Rechtsstreit gemäß §5 Abs. 3 Satz 1, §6 Abs. 1 FGO "dem Einzelrichter zur Entscheidung". Die Kläger verzichteten nachfolgend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ergänzten schriftlich ihre Klagebegründung. In dem gleichwohl aufrechterhaltenen Verhandlungstermin erschien für die Kläger niemand. Der Einzelrichter wies die Klage als unbegründet ab. Ausführungen zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter enthielt das Urteil nicht.

Mit der Revision rügen die Kläger, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§116 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. §119 Nr. 1 FGO) und die Entscheidung nicht mit Gründen versehen (§116 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. §119 Nr. 6 FGO). Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ohne Namensnennung und ohne Gewährung rechtlichen Gehörs verletze ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Darüber hinaus sei §6 FGO verfassungswidrig. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) enthalte das Gebot, richterliche Zuständigkeiten allein durch generell-abstrakte Regelungen zu bestimmen, d. h. kein Ermessen einzuräumen. Grundsätzlich sei die Übertragung auf den Einzelrichter vom Revisionsgericht zwar nicht zu überprüfen. §124 Abs. 2 FGO gelte aber nicht, wenn den Beteiligten der gesetzliche Richter entzogen worden sei. Die Vorentscheidung sei außerdem teilweise nicht mit Gründen versehen, weil sie keine Ausführungen zur Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Übertragung der Sache auf den Einzelrichter und zur eventuellen Nichtigkeit des §6 FGO enthalte. Im übrigen rügen die Kläger die Verletzung des gesetzlichen Richters bei der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) über die Revision. Der Vorsitzende des Senats bestimme selbst den Berichterstatter und könne wegen der Überbesetzung des Senats durch den Zeitpunkt der Durchführung der mündlichen Verhandlung eine weitere Gerichtsperson selbst bestimmen. Die Kläger begehren, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Art. 101 GG auszusetzen.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen und die Kosten für das Revisionsverfahren nicht zu erheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Rüge nicht ordnungsgemäßer Besetzung des erkennenden Senats ist unbegründet.

Nach dem Beschluß des Plenums des BVerfG vom 8. April 1997 1 PBvU 1/95 (BVerfGE 95, 322) ist es nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich geboten, für mit Berufsrichtern überbesetzte Spruchkörper eines Gerichts im voraus nach abstrakten Merkmalen zu bestimmen, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitzuwirken haben. Diesen Anforderungen entspricht die aufgrund §4 FGO i. V. m. §21g des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) getroffene Verfügung des Vorsitzenden des IX. Senats vom 17. Juni 1997 über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 1997. In ihr ist abstrakt festgelegt, welche Richter des erkennenden Senats im zweiten Halbjahr 1997 an den einzelnen Entscheidungen über die anhängigen Beschlußsachen mitzuwirken haben. Nach Abschnitt II. 2. der Mitwirkungsgrundsätze bleiben die bis zum 30. Juni 1997 vorgenommenen Zuschreibungen hinsichtlich Berichterstatter und Mitberichterstatter unberührt. Gemäß Abschnitt II. 2. der Verfügungen des Vorsitzenden des IX. Senats vom 6. Dezember 1994 und vom 12. Dezember 1995 über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren in den Geschäftsjahren 1995 und 1996 bestimmt der Vorsitzende den Berichterstatter nach Maßgabe der dem senatsinternen Mitwirkungsplan als Anlage 1 beigefügten Grundsätze aus dem Kreis der Senatsmitglieder entsprechend der nach Sachfragen aufgeteilten Zuständigkeiten. Der Mitberichterstatter wird nach Maßgabe der im senatsinternen Mitwirkungsplan dem jeweiligen Richter zugeordneten Endziffern der Geschäftsnummern bestimmt. Die dem Vorsitzenden des erkennenden Senats danach noch verbleibenden Möglichkeiten einer Ermessensausübung bei der Bestimmung des Berichterstatters sind zur Gewährleistung einer effektiven Rechtsprechungstätigkeit des Spruchkörpers erforderlich.

Den Antrag der Kläger auf Aussetzung des Verfahrens gemäß §74 FGO sieht der Senat aufgrund des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 95, 322 als erledigt an.

2. Die Revision ist unzulässig.

Die Revision ist weder vom FG noch vom BFH zugelassen worden. Der Senat hat mit Beschluß vom heutigen Tage die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger als unzulässig verworfen. Das Rechtsmittel ist auch nicht als zulassungsfreie Revision statthaft. Die Kläger haben keinen der dort genannten Verfahrensmängel ordnungsgemäß dargelegt (§120 Abs. 2 Satz 2 FGO).

a) Die Kläger haben keine Tatsachen vorgetragen, welche die schlüssige Rüge einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§116 Abs. 1 Nr. 1 FGO) enthalten.

aa) Gesetzlicher Richter ist auch der Einzelrichter, dem der Senat den Rechtsstreit gemäß §6 Abs. 1 FGO zur Entscheidung übertragen hat. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen §6 FGO bestehen nicht. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf den Beschluß des BVerfG vom 22. September 1983 2 BvR 1475/83 (Neue Juristische Wochenschrift 1984, 559) zu §31 des Asylverfahrensgesetzes, der eine Einzelrichterzuständigkeit in einer dem §6 Abs. 1 FGO vergleichbaren Weise eröffnet (BFH-Beschluß vom 10. September 1996 IV R 51/94, BFH/NV 1997, 242, m. w. N.) und auf den Beschluß des BVerfG in BVerfGE 95, 322, 330f., der davon ausgeht, daß in bestimmten Fällen die Entscheidung eines Rechtsstreits vom Kollegialgericht auf den Einzelrichter übertragen werden kann.

Der Übertragungsbeschluß des Senats des FG ist gemäß §6 Abs. 4 Satz 1 FGO unanfechtbar und damit nach §124 Abs. 2 FGO grundsätzlich vom Revisionsgericht nicht zu überprüfen (BFH-Beschluß vom 17. April 1996 VI R 105/95, BFH/NV 1996, 767). Eine Besetzungsrüge mit der Begründung, die Voraussetzungen des §6 Abs. 1 FGO für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten nicht vorgelegen, kann deshalb nur ausnahmsweise Erfolg haben, so etwa dann, wenn sich der Einzelrichter selbst bestellt hat, ihm der Rechtsstreit statt durch Senatsbeschluß durch Verfügung des Vorsitzenden zugewiesen worden ist, ein Verstoß gegen die ausdrücklichen Verbote des §6 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 FGO vorliegt, oder wenn sich die Übertragung auf den Einzelrichter aus sonstigen Gründen als "greifbar gesetzwidrig" erweist (BFH-Beschlüsse vom 19. Januar 1994 II R 69/93, BFH/NV 1994, 725; vom 29. Mai 1996 IV R 26/95, BFH/NV 1996, 908).

bb) Einen derartigen Sachverhalt haben die Kläger nicht schlüssig dargetan.

Die namentliche Angabe des zuständigen (Einzel-)Richters im Übertragungsbeschluß ist nicht erforderlich, weil sich dieser gemäß §4 FGO i. V. m. §21g Abs. 3 GVG aus dem internen Geschäftsverteilungsplan des zuständigen Senats des FG ergibt (ebenso Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §6 Anm. 7; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, §6 FGO Tz. 12; Buciek in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, §6 FGO Rz. 86; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., §6 FGO Anm. 2, von Wedel, in Schwarz, Kommentar zur FGO, §6 Rz. 16; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl., §6 Rz. 20; vgl. auch BFH-Beschluß vom 26. Februar 1996 VI R 66/95, BFH/NV 1996, 572). Den Angaben der Kläger läßt sich nicht entnehmen, daß im Streitfall eine derartige Regelung fehlte oder hiervon abgewichen worden sei (vgl. BFH-Beschluß vom 24. Oktober 1996 IV R 57/95, BFH/NV 1997, 417).

Die Entscheidung durch den Einzelrichter an Stelle des Senats ist auch nicht wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, "greifbar gesetzwidrig". Da auf die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs verzichtet werden kann, muß diese -- sofern dies möglich ist -- bereits vor dem FG erhoben werden (BFH-Beschluß vom 19. Juli 1995 X B 153/94, BFH/NV 1996, 154). Dies ist nicht geschehen. Die Kläger haben sich vielmehr in Kenntnis des Übertragungsbeschlusses vom 30. Dezember 1994 mit Schriftsatz vom 23. Februar 1995 auf die Sache eingelassen, ohne eine unterlassene Anhörung zu rügen.

Aus dem Vortrag der Kläger ergibt sich auch nicht, daß der Übertragungsbeschluß in offenbarem Widerspruch zu §6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO ergangen wäre, weil die Sache erhebliche Schwierigkeiten aufwies oder grundsätzliche Bedeutung hatte und die Übertragung deshalb "greifbar gesetzwidrig" war (vgl. BFH in BFH/NV 1997, 417). Die Kläger haben zwar eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht. Eine hierauf gestützte Besetzungsrüge ist jedoch allenfalls dann schlüssig erhoben, wenn die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt wird und außerdem, daß diese -- unter Berücksichtigung des Beteiligtenvorbringens im Klageverfahren -- für das FG offenkundig war. Daran fehlt es im Streitfall (vgl. Senatsbeschluß vom heutigen Tage zur Nichtzulassung der Revision).

b) Einen Begründungsmangel i. S. des §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO haben die Kläger ebenfalls nicht schlüssig gerügt.

Nach der Rechtsprechung des BFH fehlen die Entscheidungsgründe zwar nicht nur dann, wenn die Entscheidung überhaupt nicht mit Gründen versehen ist. Diese Voraussetzung ist vielmehr bereits erfüllt, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (BFH-Beschluß vom 11. Dezember 1996 XI R 25/96, BFH/NV 1997, 502). Der selbständige Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel muß in dem Verfahren vor dem FG aber geltend gemacht worden sein. Es muß sich um einen wesentlichen Streitpunkt des Verfahrens handeln (BFH-Beschluß vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638; BFH-Urteil vom 13. November 1996 X R 18/95, BFH/NV 1997, 494). Ob das Gericht auf alle Gesichtspunkte sowie den gesamten Akteninhalt eingangen ist und zutreffende Schlußfolgerungen gezogen hat, ist keine Frage der fehlenden Begründung i. S. des §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO. Mängel dieser Art eröffnen keine zulassungsfreie Revision (BFH- Beschluß vom 14. November 1995 VIII R 84/93, VIII R 1/94, BFH/NV 1996, 416).

Die Kläger haben nicht vorgetragen, sich bereits im Klageverfahren auf eine Verfassungswidrigkeit des §6 FGO und die Notwendigkeit einer Anhörung der Beteiligten vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter berufen zu haben. Vielmehr machen sie geltend, das FG hätte diesen -- eine Sachentscheidungsvoraussetzung betreffenden -- Fragen von Amts wegen nachgehen müssen. Diese Beanstandung betrifft aber im Kern nicht das Fehlen von Entscheidungsgründen, sondern die Rüge einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht oder einer unzutreffenden Auslegung des §6 FGO bzw. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. auch BFH in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638 und in BFH/NV 1996, 416).

 

Fundstellen

Haufe-Index 66990

BFH/NV 1998, 720

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