BFH: Richter müssen in Video-Gerichtsverhandlung sichtbar sein

Der Anspruch auf vorschriftsmäßige Besetzung eines Gerichts ist verletzt, wenn nicht sämtliche Richter während einer Video-Gerichtsverhandlung sichtbar sind. Die technische Ausstattung der Verfahrensbeteiligten liegt allein in deren Verantwortung.

Erhebt ein Verfahrensbeteiligter eine Besetzungsrüge mit der Begründung, nicht sämtliche Richter seien während einer Videoverhandlung sichtbar gewesen, muss er darlegen, dass die mangelnde Sichtbarkeit eine Folge der technischen Gegebenheiten bei Gericht und nicht Folge der in seinem Verantwortungsbereich liegenden Gegebenheiten war.

Sichtbarkeit sämtlicher Richter während der gesamten Videoverhandlung

In einer grundlegenden Entscheidung hat der BFH die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Besetzungsrüge im Falle einer mangelnden Sichtbarkeit der Gesichter der erkennenden Richter geklärt. Der BFH stellte in seiner Entscheidung zunächst klar, dass bei einer Gerichtsverhandlung per Videokonferenz sämtliche erkennenden Richter ständig sichtbar sein müssen. Die Beteiligten müssten durch die ständige Sichtbarkeit der beteiligten Richter in der Lage sein, festzustellen, ob die beteiligten Richter körperlich und geistig der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten folgen oder ob z. B. ein Richter weggenickt oder verspätet zur Verhandlung erschienen ist.

Ursache für Sichtbarkeitsprobleme im konkreten Fall strittig

Im konkreten Fall hatte die Klägerin des Verfahrens im Rahmen einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eine Besetzungsrüge erhoben mit der Begründung, ihr Prozessbevollmächtigter habe die Gesichter der Richter während der Verhandlung nicht erkennen können. Sie führte dies auf eine zu große Entfernung zwischen der Kamera und der Richterbank zurück. Der Beklagte und Beschwerdegegner behauptete demgegenüber, sämtliche Richter seien während der gesamten Verhandlung klar zu erkennen und zu verstehen gewesen. Die Ursache für die Probleme der Klägerin seien wohl eher in einer mangelhaften technischen Ausstattung der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten zu suchen.

Ausführungen der Klägerin zu unsubstantiiert

Die Ausführungen der Klägerin zur Begründung der gemäß § 119 Nr.1 FGO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erhobenen Besetzungsrüge genügten dem BFH nicht. Die Darstellung der Klägerin, die Kamera im Gericht sei „augenscheinlich“ an der Rückwand des Gerichts angebracht gewesen, sodass wegen einer zu großen Entfernung zwischen Kamera und Richterbank die Gesichter der Richter nicht erkennbar gewesen seien, sei nicht hinreichend substantiiert und offensichtlich eine auf eine Vermutung gestützte bloße Behauptung. Angesichts des Umstandes, dass bei der Beklagten solche Probleme nicht aufgetreten sein, hätte die Klägerin substantiiert begründen müssen, dass die von ihr behauptete mangelnde Sichtbarkeit ihre Ursache im Verantwortungsbereich des Gerichts und nicht in der technischen Ausstattung in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten gehabt habe.

Darlegungen zur technischen Kanzleiausstattung erforderlich

Zur technischen Ausstattung in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten vermisste der BFH jeglichen Sachvortrag. Die Ursache der behaupteten schlechten Sichtbarkeit könne z. B. auch durch eine zu langsame Internetverbindung und eine dadurch möglicherweise entstehende Verpixelung oder einen zu kleinen Bildschirm in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin entstanden sein. Da die Übertragung über einen Browser laufe, bestehe grundsätzlich auch die Möglichkeit, durch Aktivieren der Vollbildansicht oder der Zoomfunktion des Browsers das Bild zu vergrößern. Dazu, ob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dies versucht habe, fehle ebenfalls jeglicher Sachvortrag.

Besetzungsrüge im Ergebnis erfolglos

Da der BFH auch die übrigen von der Klägerin vorgebrachten Gründe für die Zulassung der Revision gegen das erstinstanzliche Urteil des FG als nicht stichhaltig bewertete, wies der BFH die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als unbegründet zurück.

(BFH, Beschluss v. 9.11.2023, IX B 56/23)

Hintergrund:

In der Vergangenheit hat der BFH bereits mehrfach über die technischen Anforderungen an die Videokonferenztechnik in Gerichtssälen und die grundsätzlich erforderliche Sichtbarkeit der Richterbank entschieden.

Die Richterbank muss durchgehend sichtbar sein

Bei einer Verhandlung, die vor dem FG Münster per Videokonferenz durchgeführt wurde, war die Kamera so platziert, dass über weite Strecken der Verhandlung nur der Vorsitzende Richter und nicht die komplette Richterbank zu sehen war. Der BFH entschied, dies sei eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter. Sämtliche Verfahrensbeteiligten hätten Anspruch darauf, während der gesamten Verhandlung alle beteiligten Richter zu sehen. Nur so seien sie in der Lage, zu beurteilen, ob sämtliche Richter der Verhandlung in ihren wesentlichen Teilen tatsächlich folgen (BFH, Beschluss v. 30.6.2023, VB 13/22).

Zeitgleiche Wahrnehmung aller Beteiligten muss möglich sein

Nach einer weiteren Entscheidung des BFH ist auch eine zeitgleiche Wahrnehmung aller Beteiligten zu gewährleisten. Ist die Videotechnik im Gerichtssaal so angebracht, dass der anwesende Prozessbevollmächtigte per 180°-Wendung nach hinten schauen muss, um die anderen Beteiligten wahrzunehmen, so entspricht dies nach Auffassung des BFH nicht den Vorgaben des § 128a ZPO. Sämtliche Beteiligten müssten, ohne große körperliche Verrenkungen gleichzeitig zu sehen sein (BFH, Beschluss v. 18.8. 2023, IX B 104/22)

Reformpläne der Bundesregierung

Die Bundesregierung und das BMJ planen, die Videotechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und der Fachgerichtsbarkeit zukünftig noch intensiver zu nutzen. Zukünftig soll der Vorsitzende Richter eine Videoverhandlung ohne Zustimmung der Parteien anordnen können, die Parteien sollen entsprechend den Forderungen der BRAK allerdings ein Einspruchsrecht gegen die richterliche Anordnung einer Videoverhandlung erhalten. Der Einspruch soll keiner Begründung bedürfen und unmittelbar dazu führen, dass mündlich zu verhandeln ist.

Recht auf Durchführung einer Videoverhandlung

Auch die Parteien sollen ein eigenes Recht auf Durchführung einer Videoverhandlung erhalten, § 128a Abs. 2 Satz 2 ZPO –E, darüber hinaus ein Antragsrecht zur Durchführung von Video-Beweisaufnahmen. Das Gericht soll über einen entsprechenden Antrag nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, bei übereinstimmendem Antrag der Parteien soll das Gericht dem Antrag stattgegeben. Die Ablehnung des Antrags eines Verfahrensbeteiligten zur Durchführung einer Videoverhandlung soll dem Gericht (nicht dem Vorsitzenden) vorbehalten bleiben. Die Ablehnung soll durch Gerichtsbeschluss erfolgen, der begründet werden muss, § 128a Abs. 2 Satz 3 und 4 ZPO-E.

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