Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Urlaubsanspruch. Erwerbsunfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Entstehen und Bestehen eines Urlaubsanspruchs ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß bei bestehendem Arbeitsverhältnis ein Arbeitnehmer eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht.

 

Orientierungssatz

Auslegung des § 10 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 30. April 1980.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 17.09.1985; Aktenzeichen 11 Sa 775/85)

ArbG Bochum (Entscheidung vom 08.03.1985; Aktenzeichen 1 Ca 1408/84)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 12. März 1976 als Arbeiterin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist der Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 30. April 1980 (MTV Metall) anzuwenden. Darin ist u. a. bestimmt:

"§ 10

Allgemeine Urlaubsbestimmungen

.....

2. Der Zeitpunkt des Urlaubs richtet sich nach dem

aufgestellten Urlaubsplan. Soweit kein Urlaubs-

plan besteht, kann der Urlaubsanspruch, abgesehen

vom Eintrittsjahr, ab 1. April in voller Höhe

geltend gemacht werden.

3. Im Ein- und Austrittsjahr hat der Arbeitnehmer/

Auszubildende gegen den alten und neuen Arbeit-

geber/Ausbildungsbetrieb auf so viele Zwölftel

des ihm zustehenden Urlaubs Anspruch, als er

Monate bei ihnen gearbeitet hat (Beschäftigungs-

monate)/ ausgebildet wurde (Ausbildungsmonate).

Ein angefangener Monat wird voll gerechnet, wenn

die Beschäftigung/Ausbildung mindestens zehn

Kalendertage bestanden hat. Für eine Beschäfti-

gung/Ausbildung bis zu zwei Wochen besteht kein

Urlaubsanspruch.

Dieser Anspruch kann bei Eintritt bis zum 31. Mai

nach sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit, bei

Eintritt nach dem 31. Mai ab 1. Dezember geltend

gemacht werden.

4. In den auf das Eintrittsjahr folgenden Kalender-

jahren ist der volle Jahresurlaub zu gewähren,

wenn das Arbeitsverhältnis durch ordentliche

Kündigung des Arbeitgebers nach dem 1. April

beendet wird.

Arbeitnehmer, die wegen Erhalts einer Rente aus

der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Be-

trieb ausscheiden, haben unabhängig vom Termin

ihres Ausscheidens Anspruch auf den vollen Jah-

resurlaub, wenn sie im Austrittsjahr bis zum

31. Januar tatsächlich gearbeitet haben.

.....

8. Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach

Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, daß er

erfolglos geltend gemacht wurde oder daß Urlaub

aus betrieblichen Gründen oder wegen Krankheit

nicht genommen werden konnte."

Vom 7. November 1981 bis zum 31. Juli 1984 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Vom 20. Januar 1983 bis zum 31. Juli 1984 erhielt sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Am 21. Dezember 1983 hatte die Klägerin schriftlich von der Beklagten u. a. die Gewährung von Urlaub aus dem Jahre 1983 verlangt.

In der Zeit vom 1. August bis zum 3. August und vom 20. August bis zum 21. September 1984 gewährte die Beklagte der Klägerin Urlaub.

Am 7. November 1984 forderte die Klägerin die Beklagte erneut schriftlich auf, ihr Urlaub zu gewähren mit dem Hinweis, daß sie im August/September 1984 Urlaub aus dem Jahre 1983 erhalten habe. Die Beklagte hat sich geweigert, der Klägerin den verlangten Urlaub zu gewähren.

Mit ihrer am 12. Dezember 1984 erhobenen Klage hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr 30 Tage Tarifurlaub für das Jahr 1983 zu gewähren. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter. Die Klägerin bittet, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Klägerin steht der von ihr mit der Klage begehrte Urlaubsanspruch von 30 Arbeitstagen zu.

1. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß für die Klägerin nach § 9 Nr. 1, § 11 Nr. 1 MTV Metall ein Urlaubsanspruch von 30 Tagen im Jahr 1983 entstanden ist.

Diesen Anspruch hat die Klägerin mit Beginn des Jahres 1983 erworben.

Soweit das Landesarbeitsgericht unter Hinweis auf § 10 Nr. 2 Satz 2 MTV Metall meint, der Arbeitnehmer erwerbe den Urlaubsanspruch erst mit dem 1. April des Urlaubsjahres, kann ihm nicht gefolgt werden. Nach § 10 Nr. 2 Satz 2 MTV Metall kann der Urlaubsanspruch, abgesehen vom Eintrittsjahr, soweit kein Urlaubsplan besteht, ab 1. April in voller Höhe geltend gemacht werden. Daraus folgt nicht, daß der Anspruch erst in diesem Zeitpunkt entsteht, sondern nur, daß er vorher nicht fällig ist, wenn kein Urlaubsplan besteht (vgl. dazu Ziepke, Kommentar zum MTV Metall NRW, 2. Aufl., § 10 Anm. 3: "Die Möglichkeit, mit der Urlaubsgewährung vor dem 1. April zu beginnen, wird durch diese Bestimmung nicht ausgeschlossen").

2. Dem Landesarbeitsgericht ist auch darin zu folgen, daß der Anspruch der Klägerin nicht etwa wegen Rechtsmißbrauchs ausgeschlossen ist, weil sie im Kalenderjahr 1983 nicht gearbeitet hat.

Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts hierzu stimmt mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts überein. Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat erstmals mit der Entscheidung vom 28. Januar 1982 (BAGE 37, 382 = AP Nr. 11 zu § 3 BUrlG Rechtsmißbrauch) sowie zuletzt am 7. November 1985 (BAGE 50, 124 = AP Nr. 16 zu § 3 BUrlG Rechtsmißbrauch) die Auffassung vertreten, daß es für Entstehen und Bestehen des Urlaubsanspruchs nicht auf die Erbringung von Arbeitsleistungen ankommt. Dieser Rechtsprechung hat sich der erkennende Senat mit Urteil vom 14. Mai 1986 (BAGE 52, 67 = AP Nr. 26 zu § 7 BUrlG Abgeltung) angeschlossen und diese Auffassung seinen Entscheidungen ebenfalls in ständiger Rechtsprechung zugrunde gelegt (vgl. für den MTV Metall zuletzt Urteil vom 25. August 1987 - 8 AZR 331/85 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt).

Die Angriffe der Revision sind nicht geeignet, eine Änderung dieser Rechtsprechung in Erwägung zu ziehen. Sie enthalten insgesamt nur eine Wiederholung von Ansichten, die der Sechste und der erkennende Senat bereits mehrfach mit ausführlicher Begründung widerlegt haben. Einer erneuten Stellungnahme des Senats hierzu bedarf es nicht.

3. Am Entstehen und Bestehen des Urlaubsanspruchs der Klägerin im Jahr 1983 ändert sich entgegen der Auffassung der Revision auch nichts dadurch, daß die Klägerin während des Jahres 1983 eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten hat.

a) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war die Klägerin während des gesamten Jahres 1983 arbeitsunfähig krank. Diese Feststellungen des Landesarbeitsgerichts werden von der Revision nicht mit prozessualen oder materiellen Rügen angegriffen. Die Beklagte hat im übrigen auch keinen Tatbestandsberichtigungsantrag gestellt. Der Senat ist damit an die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts gebunden, daß die Klägerin arbeitsunfähig krank war (§ 561 Abs. 2 ZPO). Der Anspruch der Klägerin auf den Urlaubsanspruch für das Jahr 1983 ist durch die Arbeitsunfähigkeit in Entstehen und Bestand nicht ausgeschlossen.

Daß die Klägerin während ihrer Arbeitsunfähigkeit vom 20. Januar 1983 bis zum 31. Juli 1984 außerdem auch eine Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit erhalten hat, ist für die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin unmaßgeblich.

b) Soweit die Revision annimmt, daß der Erwerbsunfähigkeit weitergehende Wirkungen auf den Urlaubsanspruch beizulegen seien, die Erwerbsunfähigkeit also als "gesteigerte" Arbeitsunfähigkeit angesehen werden müsse, kann dem nicht gefolgt werden.

Der erkennende Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 14. Mai 1986 (aaO) dargelegt, daß die Begriffe arbeitsunfähig krank und erwerbsunfähig nicht deckungsgleich sind und daraus gefolgert, daß die Erwerbsunfähigkeit der Erfüllbarkeit des Anspruchs auf Urlaub oder Urlaubsabgeltung nicht unbedingt entgegensteht. Daraus kann aber nicht hergeleitet werden, daß die Bewilligung einer Erwerbsunfähigkeitsrente zum Ausschluß eines Urlaubsanspruchs führt.

Weder Erwerbsunfähigkeit noch Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers sind für das Entstehen und das Bestehen urlaubsrechtlicher Ansprüche von Bedeutung. Fraglich kann nur sein, ob Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern, die arbeitsunfähig krank oder erwerbsunfähig sind, erfüllt werden können. Dies ist für arbeitsunfähige Arbeitnehmer für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu verneinen, weil während dieser Zeit keine Arbeitspflichten entstehen können, von denen ein Arbeitnehmer durch Urlaubsgewährung befreit werden könnte. Anders kann dies bei der Erwerbsunfähigkeit sein, deren Merkmale nach § 1247 RVO zu bestimmen sind. Sie stimmen mit denen der Arbeitsunfähigkeit nicht überein. Der erkennende Senat vertritt seit der Entscheidung vom 14. Mai 1986 (aaO) in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß die Erwerbsunfähigkeit nicht notwendig voraussetzt, daß der Arbeitnehmer eine bisher vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Ob dies zutrifft, hängt vom Inhalt des jeweiligen Arbeitsverhältnisses ab. Es ist somit nicht ausgeschlossen, daß ein Arbeitnehmer erwerbsunfähig, aber zugleich dennoch arbeitsfähig ist. Wegen der den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann davon hier nicht ausgegangen werden.

4. Zu Unrecht meint die Revision, aus § 10 Nr. 3 Abs. 1 MTV Metall eine Minderung des Urlaubsanspruchs herleiten zu können.

Die Revision übersieht, daß diese Bestimmung sich nur auf Urlaubsansprüche im Ein- und Austrittsjahr bezieht. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin zur Beklagten ist im Jahre 1983 nicht beendet worden, sondern besteht im Gegenteil über das Jahr 1984 hinaus fort. Damit kommt es auf die besonderen Merkmale dieser Vorschrift für den Anspruch der Klägerin nicht an (vgl. dazu im übrigen das Urteil des erkennenden Senats vom 25. August 1987 - 8 AZR 331/85 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt).

5. Jedenfalls im Ergebnis zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß der Urlaubsanspruch aus dem Jahre 1983 nach § 10 Nr. 8 MTV Metall auf das folgende Kalenderjahr übergegangen ist. Nach dieser Bestimmung erlischt der Urlaubsanspruch drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, daß er u. a. wegen Krankheit nicht genommen werden konnte.

Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war die Klägerin während des ganzen Jahres 1983 und auch in den folgenden drei Kalendermonaten arbeitsunfähig krank. Daher konnte der Urlaub i. S. von § 10 Nr. 8 MTV Metall nicht genommen werden. Er ist damit dem Urlaubsanspruch des Jahres 1984 hinzugetreten und wie dieser zu behandeln (vgl. BAGE 50, 112 = AP Nr. 8 zu § 7 BUrlG Übertragung).

Soweit das Landesarbeitsgericht in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, der Urlaub habe einerseits wegen der Erwerbsunfähigkeit der Klägerin nicht genommen werden können, andererseits setze die Erwerbsunfähigkeit Krankheit voraus, kann dem aus den oben zu 3 a und b dargelegten Gründen nicht gefolgt werden. Diese rechtliche Würdigung des Landesarbeitsgerichts steht im übrigen im Widerspruch zu den vom Gericht zuvor getroffenen tatsächlichen Feststellungen.

War die Klägerin wegen ihrer Krankheit gehindert, den Urlaub im Jahr 1983 zu nehmen, bedarf es keiner Entscheidung des Senats zu der von der Revision aufgeworfenen Frage, ob § 10 Nr. 8 MTV Metall den Übergang des Urlaubsanspruchs eines Arbeitnehmers in das nachfolgende Jahr bewirken kann, der bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis nur deshalb nicht gearbeitet hat, weil er eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht.

6. Hat der Urlaubsanspruch von 30 Tagen der Klägerin zuzüglich des Urlaubsanspruchs für das Jahr 1984 zugestanden, war die Beklagte verpflichtet, den Urlaub im Jahre 1984 nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin vollständig zu gewähren. Die Beklagte hat sich auf die rechtzeitige Geltendmachung der Klägerin vom 7. November 1984 und vom 12. Dezember 1984 (Klagerhebung) zu Unrecht geweigert, diesen Teil des Urlaubsanspruchs zu erfüllen; die Klägerin hat ihn also i. S. von § 10 Nr. 8 MTV Metall erfolglos geltend gemacht. Auf das Urlaubsverlangen der Klägerin vom 21. Dezember 1983 kommt es nicht an, weil sie zu dieser Zeit wegen ihrer Krankheit keinen Urlaub hätte nehmen können (vgl. das Urteil des Senats vom 13. November 1986, BAGE 53, 328 = AP Nr. 26 zu § 13 BUrlG). Der Urlaubsanspruch bestand mithin als Teil des Jahresurlaubs 1985 auch noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 17. September 1985.

Der Gewährung dieses Urlaubs in Höhe von 30 Arbeitstagen steht schließlich auch nicht der Umstand entgegen, daß die Beklagte den Urlaub ebenfalls nicht bis zum 31. März 1986 gewährt hat. Die Beklagte war gegenüber der Klägerin mit der Urlaubsgewährung jedenfalls seit der Zustellung der Klage in Leistungsverzug. Zwar kann nach dem 31. März 1986 die ursprünglich geschuldete Leistung wegen Zeitablaufs nicht mehr erbracht werden, die Erfüllung dieser Leistung ist unmöglich geworden. Dies hat aber die Beklagte zu vertreten (§ 286 Abs. 1, § 287 Satz 2, § 249 Satz 1 BGB), so daß anstelle des ursprünglichen Urlaubsanspruchs als Schadenersatzanspruch ein Ersatzurlaubsanspruch in gleicher Höhe getreten ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt Urteil vom 25. August 1987, aaO).

7. Der Ausspruch des vom Landesarbeitsgericht bestätigten erstinstanzlichen Urteils ist klarzustellen. Für die weitere rechtliche Behandlung des der Klägerin zustehenden Urlaubsanspruchs ist nicht erheblich, daß dieser im Urlaubsjahr 1983 entstanden ist.

Michels-Holl Dr. Leinemann Dr. Peifer

Schömburg Hannig

 

Fundstellen

Haufe-Index 441730

BAGE 58, 304-310 (LT1)

BAGE, 304

BB 1989, 288-289 (LT1)

DB 1989, 182 (LT1)

EBE/BAG 1988, 47-48 (LT1)

DRsp, VI (604) 179 c (T)

ARST 1989, 73-74 (LT1)

ASP 1989, 18-19 (K)

EWiR 1989, 159-159 (L1)

JR 1989, 308

JR 1989, 308 (ST)

NZA 1989, 362-363 (LT1)

AP § 1 BUrlG (LT1), Nr 19

AR-Blattei, ES 1640 Nr 311 (LT1)

AR-Blattei, Urlaub Entsch 311 (LT1)

EzA § 7 BUrlG, Nr 63 (LT1)

EzBAT § 47 BAT, Nr 10 (LT1)

MDR 1989, 290 (KT)

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