Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Hinweise einer Rechtsmittelbelehrung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Rechtsmittelbelehrung braucht keinen Hinweis zu enthalten, daß die Rechtsmittelfrist sich um einen Tag verlängert, wenn ihr Ablauf auf einen gesetzlichen Feiertag fällt. Der Betroffene kann daher hierauf keinen Antrag auf Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Rechtsmittelfrist in den vorigen Stand stützen.

2. In seiner abweichenden Meinung vertritt der Richter Seuffert die Auffassung, daß der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG bestehende Anspruch auf rechtliches Gehör die Zulässigkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ergibt, wenn der Rechtsmittelführer nicht erkennt, wenn die Rechtsmittelbelehrung unzutreffend ist.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO §§ 35a, 43 Abs. 2, § 44 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Beschluss vom 19.01.1971; Aktenzeichen V Qs 6/71)

AG Böblingen (Aktenzeichen 7 Cs 822/70)

 

Gründe

I.

1. Gegen den Beschwerdeführer, einen Arzt, erging ein Strafbefehl des Amtsgerichts Böblingen vom 9. November 1970 – 7 Cs 822/70 – wegen fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr über eine Geldstrafe von 700 DM, ersatzweise eine Freiheitsstrafe von 14 Tagen. Die mit einer vorgedruckten Belehrung über die Einlegung des Einspruchs versehene Ausfertigung dieses Strafbefehls wurde dem Beschwerdeführer selbst im Wege einer Ersatzzustellung gemäß §§ 37 Abs. 1 Satz 1 StPO, 182 ZPO durch Niederlegung bei der zuständigen Postanstalt am 11. November 1970 zugestellt; eine Zustellung oder sonstige Mitteilung an seine Verteidiger (§ 145 a Abs. 1 und 4 StPO) unterblieb. Nach der Darstellung des Beschwerdeführers hat ihm seine Ehefrau die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung erst eine Woche später, am Donnerstag, dem 19. November 1970, übergeben; er ging dann sofort zum Postamt und holte dort den Strafbefehl ab. Da der 18. November 1970, der Buß- und Bettag, gesetzlicher Feiertag in Baden-Württemberg war, endete die Einspruchsfrist von einer Woche gemäß § 43 Abs. 2 StPO erst am 19. November 1970. Die vorgedruckte Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls enthielt keinen Hinweis auf diese gesetzliche Regelung.

Mit einem am 26. November 1970 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Verteidiger legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte gegen die Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Mit Beschluß vom 16. Dezember 1970 verwarf das Amtsgericht dieses Wiedereinsetzungsgesuch als unbegründet; die Einspruchsfrist sei noch nicht verstrichen gewesen, als der Beschwerdeführer seinem eigenen Vortrag zufolge in den Besitz des Strafbefehls gelangt sei; es sei ihm zuzumuten gewesen, sein Einspruchsschreiben zu dem unweit seiner Wohnung gelegenen Amtsgericht zu bringen und dadurch die am Ende dieses Tages ablaufende Frist zu wahren.

Mit der sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, er habe nicht gewußt, daß der vorangegangene Feiertag für die Berechnung der Einspruchsfrist nicht zähle; die Rechtsmittelbelehrung habe keinen entsprechenden Hinweis enthalten; er habe deshalb nicht annehmen können, daß der Einspruch am 19. November 1970 noch rechtzeitig hätte eingelegt werden können. Das Landgericht Stuttgart hat mit Beschluß vom 19. Januar 1971 das Rechtsmittel als unbegründet verworfen und zur Begründung ausgeführt: Wenn der Beschwerdeführer nach Abholung des Strafbefehls bei der Post irrtümlich davon ausgegangen sei, daß die Einspruchsfrist bereits abgelaufen gewesen sei, so treffe ihn an der Fristversäumung eigenes Verschulden; es sei ihm ohne weiteres möglich und auch zumutbar gewesen, bei dem Amtsgericht, einem Rechtsanwalt oder einer sonstigen rechtskundigen Person sofort – eventuell telefonisch – Erkundigungen über das Ende der Einspruchsfrist einzuholen.

2. Gegen diese Entscheidung des Beschwerdegerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde, die sinngemäß eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt. Der dem Strafbefehl angefügten Rechtsmittelbelehrung sei nicht zu entnehmen gewesen, daß die Einspruchsfrist an einem gesetzlichen Feiertag, der innerhalb der Woche liege, nicht ablaufe. Wenn eine Rechtsmittelbelehrung unvollständig und daher unrichtig sei, so dürfe dies nicht zu Lasten eines Angeklagten gehen.

3. Das Justizministerium Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Das Landgericht habe die Tragweite des Art. 103 Abs. 1 GG verkannt und an die Sorgfaltspflicht des Beschwerdeführers zu hohe Anforderungen gestellt.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Hat ein Beschuldigter die Frist zum Einspruch gegen den Strafbefehl versäumt, so hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. In diesem Falle dürfen bei Auslegung und Anwendung der prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen, was ein Beschuldigter zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu tun habe, nicht überspannt werden (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [318]).

Dieses Verfassungsgebot hat das Landgericht Stuttgart nicht verkannt.

Die dem Beschwerdeführer zugestellte Ausfertigung des Strafbefehls enthielt eine vorgedruckte Belehrung über die Erhebung eines Einspruchs, die weder unrichtig noch unvollständig war. Weder dem § 35 a StPO noch einer sonstigen Rechtsnorm kann entnommen werden, daß der Betroffene auch auf eine mögliche Verlängerung der Anfechtungsfrist gemäß § 43 Abs. 2 StPO hingewiesen werden muß. Nach allgemeiner Rechtsansicht genügt eine Belehrung über die gesetzliche Anfechtungsfrist, während die konkrete Berechnung ihres Laufes der eigenen Verantwortlichkeit des Betroffenen überlassen bleibt; es ist kaum möglich, aber auch nicht erforderlich, in einer Rechtsmittelbelehrung auf sämtliche Modalitäten einer Fristberechnung hinzuweisen (vgl. BVerwG, VerwRspr. Bd. 15 Nr. 28; BVerwG, VerwRspr. Bd. 20 Nr. 68). Es handelte sich somit nicht um eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung.

Die Gerichte haben die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt, weil der Beschwerdeführer es schuldhaft unterlassen habe, sich sofort nach Abholung des Strafbefehls – eventuell fernmündlich – bei dem Amtsgericht, einem Rechtsanwalt oder einer sonstigen rechtskundigen Person über das Ende der Einspruchsfrist zu erkundigen. Diese Beurteilung des Sachverhalts läßt keine Überspannung der an die Sorgfaltspflicht des Beschwerdeführers zu stellenden Anforderungen erkennen. Zweifel, ob die Einspruchsfrist an dem in Baden-Württemberg staatlich anerkannten Feiertag abgelaufen war oder ob der Einspruch am 19. November 1970 noch rechtzeitig eingelegt werden konnte, waren keineswegs fernliegend. Dem Beschwerdeführer konnte zugemutet werden, sogleich bei den Rechtsanwälten, die ihn bereits in der Strafsache vertraten, Nachfrage zu halten oder am gleichen Tage den von ihm beabsichtigten Einspruch selbst oder durch seinen Anwalt bei dem in einem nahen Ort gelegenen Amtsgericht einzulegen.

Bei dieser Sachlage verstößt die Versagung der Wiedereinsetzung nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Diese Entscheidung ist mit sieben Stimmen gegen eine Stimme ergangen.

Abweichende Meinung des Richters W. Seuffert zu dem Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 1971 – 2 BvR 118/71

Ich halte die Verfassungsbeschwerde für begründet. Der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Grundsatz, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung gerade in einem Fall wie dem vorliegenden nicht überspannt werden dürfen – der gerade hier besonders sorgfältig anzuwenden ist (BVerfGE 25, 158 [166]) –, ist nicht beachtet worden.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die erteilte Rechtsmittelbelehrung unvollständig oder unrichtig war; wäre das der Fall, so wäre die Wiedereinsetzung entsprechend § 44 Satz 2 StPO nach der Rechtsprechung zwingend zu gewähren gewesen. Maßgebend ist, daß nach dem Wortlaut der Belehrung die Frist am 19. November 1970 bereits abgelaufen war, ohne daß auf die Möglichkeit der Fristerstreckung durch den dazwischen getretenen Feiertag hingewiesen war. Dann konnte nicht, ohne den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu verletzen, dem Beschwerdeführer als Verschulden zugerechnet werden, wenn er nicht erkannte, daß die Belehrung für seinen Fall nicht zutraf, entsprechend ihrem Wortlaut vom bereits eingetretenen Fristablauf ausging und sich darauf einstellte, unverzüglich sich zu erkundigen, was nach Fristablauf geschehen kann.

Das Gericht hätte also über die Wiedereinsetzungsgründe im übrigen entscheiden müssen.

 

Fundstellen

BVerfGE, 388

NJW 1971, 2217

NJW 1972, 243

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