BVerfG zu Befangenheitsantrag gegen migrationskritischen Richter

„Stoppt die Invasion: Migration tötet…“. Diesen EU-Wahlkampfslogan der NPD bewertete ein hessischer Asylrichter als inhaltlich richtig. Das BVerfG hat den Richter nun wegen Besorgnis der Befangenheit in einem Asylverfahren ausgeschlossen.

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde eines afghanischen Asylbewerbers gegen die Ablehnung seines Befangenheitsantrags gegen den sein Asylverfahren leitenden Einzelrichter am VG stattgegeben.

Afghanischer Flüchtling klagte gegen negativen Asylbescheid

Der afghanische Flüchtling hatte gegen einen negativen Asylbescheid geklagt. Den für sein Verfahren zuständigen Einzelrichter lehnte er wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Der Richter am VG Gießen hatte deutschlandweite Bekanntheit in einem Verfahren erlangt, dessen Gegenstand eine behördliche Anordnung gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) war.

Fremdenfeindliche Wahlplakate der NPD

Im Rahmen des Europa-Wahlkampfes 2019 hatte die NPD deutschlandweit Plakate geklebt mit dem Slogan:

Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt

Auf dem Plakat waren im Hintergrund die Namen zahlreicher Orte in Deutschland aufgedruckt, in denen angeblich Migranten deutsche Staatsbürger getötet haben sollen. Die zuständige Verwaltungsbehörde hatte von der NPD die Entfernung der aus ihrer Sicht volksverhetzenden Wahlplakate verlangt. Gegen diese Aufforderung hatte sich die NPD gerichtlich zur Wehr gesetzt.

Asylrichter hält Migration für schädlich

In einem viel diskutierten Urteil hatte der betreffende Richter am VG Gießen entschieden, die seitens der Behörden ergangene Aufforderung an den hessischen Landesverband der NPD, das Wahlplakat zu entfernen, sei unrechtmäßig. Das Plakat erfülle schon deshalb nicht den Tatbestand der Volksverhetzung, weil es die Realität - zumindest teilweise - richtig wiedergebe.

  • Die Bewertung der Einwanderung von Flüchtlingen als „Invasion“ sei objektiv richtig.
  • Die Richtigkeit der Aussage „Migration tötet“ sei empirisch beweisbar.
  • Die Zuwanderung nach Deutschland seit dem Jahr 2015 habe zu tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der deutschen Gesellschaft führt, die Menschen zu Tode gebracht habe und sei geeignet, „auf lange Sicht … zum Tod der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ zu führen (VG Gießen, Urteil v. 9.8.2019, 4 K 2279/19).

VG wies Befangenheitsantrag zurück

Der Beschwerdeführer befürchtete aufgrund dieser Entscheidung, dass der betreffende Richter gegenüber ihm als Asylbewerber voreingenommen sei und rechnete nicht mit einem objektiv unbefangenen Urteil. Den hierauf gestützten Antrag auf Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit wies das VG durch Kammerentscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters zurück. Der vom Beschwerdeführer abgelehnte Richter erließ anschließend in dem Asylverfahren ein der Asylklage teilweise stattgebendes Urteil, mit dem er den gegen den Asylbewerber ergangenen ablehnenden Bescheid des Bundesamtes teilweise aufhob und das Bundesamt verpflichtete, dem Beschwerdeführer einen subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Recht auf gesetzlichen Richter verletzt

Das BVerfG entschied nun, dass die Ablehnung des Befangenheitsgesuchs durch das VG das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzte. Die Ausführungen des VG in dem Urteil vom August 2019 zur Migration enthielten nach Auffassung des BVerfG ausufernde historische Ausführungen zur Einwanderungsproblematik, die mit einem unvoreingenommenen Geschichtsverständnis nicht zu vereinbaren seien.

Besorgnis der Befangenheit ist nachvollziehbar

Diese willkürlichen und die geschichtlichen Abläufe verdrehenden Schlussfolgerungen des abgelehnten Richters seien aus Sicht des Asylbewerbers offensichtlich geeignet, ein Misstrauen des Beschwerdeführers gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zu begründen. Der Umstand, dass der vom Beschwerdeführer abgelehnte Richter der Asylklage des Beschwerdeführers inzwischen teilweise stattgegeben habe, könne ex nunc zu keiner anderen Beurteilung führen.

Ablehnung des Befangenheitsgesuchs war willkürlich

Die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch des Asylbewerbers durch die Kammer des VG war aus Sicht des BVerfG willkürlich, da sie die offensichtlich begründeten Befürchtungen des Beschwerdeführers missachtet habe. Damit sei das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Das BVerfG gab somit der Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang statt.

(BVerfG, Beschluss v. 1.7.2021, 2 BvR 890/20)

Hintergrund: 

Die Wahlplakate der NPD aus dem Europawahlkampf 2019 waren und sind immer noch Gegenstand verschiedener Gerichtsverfahren in Deutschland mit zum Teil überraschend unterschiedlichen Bewertungen.

OVG Münster bewertete NPD-Wahlplakate als volksverhetzend

So hat das OVG Münster entschieden, der Inhalt der Wahlplakate erfülle den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 StGB. Nach dem Urteil des OVG zielen die mit dem Wahlplakat getroffenen Aussagen auf die Gleichsetzung sämtlicher Migranten in Deutschland mit potentiellen Mördern ab. Mit der Benennung von Orten, an denen angeblich Tötungsdelikte stattgefunden haben sollen, werde dem unbefangenen Betrachter der Eindruck vermittelt, dass Deutsche in der gesamten Bundesrepublik in ständiger Furcht vor Migranten leben müssten und damit ein Klima der Angst geschaffen (OVG Münster, Urteil v. 7.7.2021, 5 A 1386/20)

LG Potsdam verneinte Straftatbestand der Volksverhetzung

Demgegenüber vertrat das LG Potsdam die Auffassung, die Aussage „Migration tötet“ verwirkliche nicht den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 StGB. Der Slogan „Migration tötet“ könne verfassungskonform als zulässiger politischer Angriff auf die Migrationspolitik der Bundesregierung seit dem Jahr 2015 ausgelegt werden. Gerade im Wahlkampf sei eine besonders weite Anwendung des Grundrechtes der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG geboten (LG Potsdam, Beschluss v. 20.12.2019, 23 Os 56/19).

Auch das BVerfG verneint strafrechtliche Relevanz

Das LG Potsdam hatte sich in seiner Entscheidung auf die Rechtsprechung des BVerfG gestützt. In einer im Ergebnis ablehnenden Entscheidung über einen Eilantrag der NPD äußerten die Verfassungsrichter deutliche Zweifel daran, dass die Aussage „Migration tötet“ den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. Auch nach der Bewertung des BVerfG kann dieser Slogan in einer im Wahlkampf zulässigen Weise auf die nach Ansicht der NPD negativen Folgen einer verfehlten Migrationspolitik hinweisen (BVerfG, Beschluss v. 24.5.2019, 1 BvQ 45/19).

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