Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung des Klageverfahrens zum Zwecke des Überdenkens von Prüfungsbewertungen

 

Leitsatz (NV)

Eine Aussetzung des Klageverfahrens wegen nicht bestandener Steuerberaterprüfung zum Zwecke der Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens kommt nur in Betracht, wenn der Kläger (Prüfling) substantiierte Einwendungen gegen die Bewertung bestimmter Prüfungsleistungen erhebt, nicht dagegen wenn lediglich Verfahrensfehler gerügt werden, die der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

 

Normenkette

FGO § 74; StBerG

 

Tatbestand

Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) hat die Steuerberaterprüfung 1992 nicht bestanden. Mit ihrer beim Finanzgericht (FG) anhängigen Klage begehrt sie die Verpflichtung des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzminister - FM -), ihr Gelegenheit zu geben, den mündlichen Teil der Prüfung unter Beibehaltung der Noten aus der schriftlichen Prüfung zu wiederholen.

Zur Begründung führt sie aus, daß bei der mündlichen Prüfung der Grundsatz der Chancengleichheit und das Gebot der Fairneß im Prüfungsverfahren verletzt worden seien. Unter Darlegung von Einzelheiten und unter Beweisantritten trägt sie u.a. vor, daß der Ausschußvorsitzende durch sein Verhalten während des Prüfungsverfahrens (Mimik und Gestik) den Eindruck vermittelt habe, es sei alles falsch, was sie gesagt habe. Er habe ausgesprochen ungeduldig und sogar auf die besseren Kandidaten zynisch und aggressiv gewirkt. In dieser höchst angespannten Atmosphäre seien auch herabsetzende Bemerkungen gefallen. Mehrfach sei ihr das Wort abgeschnitten worden, so daß sie sich nicht durch vertiefende Ausführungen habe profilieren können. Drei Ausschußmitglieder hätten während der Prüfung angefangen, auf Taschenrechnern herumzutippen und in den Prüfungsakten herumzublättern; hierdurch habe offenbar die mathematische Bestehensgrenze errechnet werden sollen. Zeitweise hätten die Prüfer auch einen geistesabwesenden Eindruck gemacht. Wegen dieses fehlerhaften, durch grobe Unsachlichkeit geprägten Prüfungsverfahrens müsse ihr Gelegenheit gegeben werden, die mündliche Prüfung zu wiederholen.

Nach einem Hinweis des Vorsitzenden des FG-Senats auf den Senatsbeschluß vom 10. August 1993 VII B 68/93 (BFHE 172, 273, BStBl II 1994, 50) und einem entsprechenden Antrag der Klägerin setzte das FG das Verfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und gab dem FM auf, eine Entscheidung des Prüfungsausschusses für Steuerberater in der Besetzung des mündlichen Teils der Prüfung der Klägerin am 10. Februar 1993 über ihre Einwendungen gegen die mündliche Prüfung einzuholen.

Mit der Beschwerde macht der FM geltend, die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO seien nicht erfüllt. Soweit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die unvollkommene gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch ein (weiteres) Verwaltungsverfahren des Überdenkens der getroffenen Entscheidung ausgeglichen werden müsse, setze das voraus, daß dieses Verfahren sich mit substantiiert dargelegten Fehlbeurteilungen von Einzelentscheidungen befasse, die für die Gesamtentscheidung von maßgeblicher Bedeutung seien. An einem derart substantiierten Vortrag über nachvollziehbare Fehlbeurteilungen von Leistungen fehle es hier. Dem Klagevortrag, der sich im wesentlichen darauf stütze, daß der mündliche Teil der Steuerberaterprüfung 1992 aufgrund der Mimik und Gestik insbesondere des Prüfungsausschußvorsitzenden als grob unsachlich empfunden worden sei, möge - wie das FG ausführe - auch die Auffassung zugrunde gelegen haben, daß die Leistungen der Klägerin in der mündlichen Prüfung zu niedrig bewertet worden seien. Behauptungen, die diese Fehlbeurteilungsvorgänge nachvollziehbar machten, seien aber nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden. Die Überprüfungen, die hier notwendig seien, richteten sich nicht auf gerichtlich nicht überprüfbare Bewertungen, sondern erstreckten sich ausschließlich auf die in vollem Umfang vom Gericht nachzuprüfenden Verfahrensfragen, die allein durch Beweiserhebung, nicht aber durch erneute Überlegungen des Prüfungsausschusses geklärt werden könnten.

Im übrigen könne der Aussetzungsbeschluß deshalb keinen Bestand haben, weil hier der Senatsvorsitzende unter Berufung auf § 79a Abs. 1 Nr. 1 FGO allein entschieden habe. Die Anwendung dieser Vorschrift begegne gravierenden verfassungsrechtlichen Bedenken (Hinweis auf den Beschluß des FG Rheinland-Pfalz vom 3. August 1993 5 K 1670/92, EFG 1993, 807).

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet.

Im Streitfall liegen die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Klageverfahrens gemäß § 74 FGO zur Durchführung eines vorgreiflichen Verwaltungsverfahrens nicht vor.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (Beschluß vom 17. April 1991 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 84, 34), des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - (Urteil vom 24. Februar 1993 6 C 35/92, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ - 1993, 681) und des beschließenden Senats (Beschluß in BFHE 172, 273, BStBl II 1994, 50) folgt aus Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) bei berufsbezogenen Prüfungen ein Anspruch des Prüflings auf effektiven Schutz seines Grundrechts der Berufsfreiheit durch eine entsprechende Gestaltung des Prüfungsverfahrens; danach muß er das Recht haben, substantiierte Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen bei der Prüfungsbehörde rechtzeitig und wirkungsvoll vorzubringen und derart ein Überdenken dieser Bewertungen unter maßgeblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer zu erreichen. Der Anspruch des Prüflings gegenüber der Prüfungsbehörde auf Überdenken der Prüfungsentscheidung stellt einen unerläßlichen Ausgleich für die nur eingeschränkt mögliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Gerichte dar, die sich daraus ergibt, daß der Bewertungsvorgang von zahlreichen Unwägbarkeiten bestimmt ist und den beteiligten Prüfern ein Entscheidungsspielraum verbleibt.

Ist - wie im Streitfall - ein Widerspruchs- bzw. Beschwerdeverfahren gegen Prüfungsentscheidungen deshalb nicht gegeben, weil der Prüfungsbescheid von der obersten Landesbehörde erlassen wird (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, § 349 Abs. 3 Nr. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -), so schließt diese Rechtslage nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung das Recht des Prüflings nicht aus, das Prüfungsamt auf vermeintliche Irrtümer und Rechtsfehler bei der Bewertung seiner Prüfungsleistungen rechtzeitig und wirkungsvoll hinzuweisen, um damit ein Überdenken der bereits getroffenen Prüfungsentscheidung zu erreichen. Das gilt auch dann, wenn bereits Anfechtungsklage gegen die Prüfungsentscheidung erhoben worden ist.

Solange die gesetzliche Regelung eines eigenständigen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens fehlt, sind die Verwaltungsgerichte und die FG verpflichtet, den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 12 Abs. 1 GG dadurch Rechnung zu tragen, daß sie bei substantiierten Einwendungen des Prüflings gegen Bewertungen seiner Prüfungsleistungen auf seinen Antrag das gerichtliche Verfahren unverzüglich gemäß § 94 VwGO, § 74 FGO aussetzen, damit zunächst die Prüfungsbehörde die Prüfungsentscheidung in eigener Zuständigkeit und Sachverantwortung unter Einschaltung der betroffenen Prüfer überdenken kann; auf diese Möglichkeit eines Antrags auf Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens ist der Prüfling gemäß § 86 Abs. 3 VwGO, § 76 Abs. 2 FGO alsbald hinzuweisen (Senat in BFHE 172, 273, BStBl II 1994, 50, 51).

2. Im Streitfall hat zwar die Klägerin auf Anregung des FG beantragt, das Klageverfahren nach § 74 FGO zum Zwecke der verwaltungsinternen Überprüfung der Prüfungsentscheidung auszusetzen. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für die Verfahrensaussetzung und Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens liegen aber nicht vor, weil die Klägerin keine substantiierten Einwendungen gegen die Bewertung ihrer Prüfungsleistungen erhoben hat. Für ein Überdenken der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren prüfungsspezifischen Wertungen durch die Prüfer besteht somit kein Anlaß.

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage im wesentlichen gegen das Verhalten der Prüfer, insbesondere des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses in der mündlichen Prüfung, durch das sie den Grundsatz der Chancengleichheit und das Gebot der Fairneß im Prüfungsverfahren als verletzt ansieht. Mit ihren Einwendungen gegen den Prüfungsstil und dem Vorwurf der Unsachlichkeit rügt sie Verfahrensverstöße und somit Rechtsfehler, die gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar sind. Es bedarf deshalb nicht des Überdenkens der Bewertungen durch die Prüfer in einem eigenständigen Kontrollverfahren, das von der Rechtsprechung lediglich als Ausgleich für die Fälle entwickelt worden ist, in denen der gerichtliche Rechtsschutz wegen des den Prüfern verbleibenden Beurteilungsspielraums nicht voll durchgreift.

In dem angefochtenen Beschluß des FG wird zwar ausgeführt, die Klägerin habe sich nicht nur gegen in vollem Umfang vom Gericht nachzuprüfende Verfahrensfragen des Prüfungsablaufs gewandt, sondern ihrem Klageantrag liege als selbstverständlich die Auffassung zugrunde, daß ihre Leistungen in der mündlichen Prüfung zu niedrig bewertet worden seien. In ihren Schriftsätzen habe sie Behauptungen aufgestellt, aus denen sie schließe, daß ihre mündlichen Prüfungsleistungen falsch bewertet worden seien. Diese Beurteilung läßt sich anhand der Schriftsätze, die die Klägerin im Klageverfahren eingereicht hat, nur schwer nachvollziehen, zumal im Schriftsatz vom 13. August 1993 (Seite 4) ausdrücklich ausgeführt wird, daß sich die Einwendungen der Klägerin nicht auf einzelne Fehler in der Bewertung ihrer Leistungen in der mündlichen Prüfung beziehen, sondern auf Verfahrensverstöße, die ihr Prüfungsversagen begründet haben könnten, weshalb ihr Gelegenheit zu geben sei, die mündliche Prüfung zu wiederholen.

Nach dem oben zitierten Urteil des BVerwG (NVwZ 1993, 681, 683) besteht der Anspruch des Prüflings auf ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren zum Zwecke des Überdenkens der prüfungsspezifischen Wertungen nicht voraussetzungslos. Dem Recht des Prüflings, auf vermeintliche Irrtümer und Rechtsfehler wirkungsvoll hinzweisen (BVerfGE 84, 34, 48), entspricht vielmehr nur dann eine Pflicht der Prüfer zum Überdenken ihrer Bewertungen, wenn ihnen wirkungsvolle Hinweise gegeben, d.h. die Einwände konkret und nachvollziehbar begründet werden. Dazu genügt es nicht, daß der Prüfling sich generell gegen eine bestimmte Bewertung seiner Prüfungsleistungen wendet und etwa pauschal eine zu strenge Korrektur bemängelt. Vielmehr muß er konkret darlegen, in welchen Punkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach seiner Auffassung Bewertungsfehler aufweist, indem er substantiierte Einwendungen gegen Prüferbemerkungen und -bewertungen erhebt. Substantiierte Einwendungen in diesem Sinne hat die Klägerin jedenfalls nicht erhoben. Eine Aussetzung des Klageverfahrens zum Zwecke der Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens über die Bewertung der Prüfungsleistungen kam somit nicht in Betracht.

Soweit die Klägerin vorträgt, die knappe Niederschrift über die mündliche Prüfung lasse gezielte Einwendungen gegen die Bewertung ihrer Prüfungsleistungen nicht zu, handelt es sich wiederum um einen Einwand, der das Prüfungsverfahren selbst und die Form seiner Protokollierung, nicht aber prüfungsspezifische Bewertungen betrifft. Bei den inhaltlichen Anforderungen an die Niederschrift über die mündliche Prüfung handelt es sich um reine Rechtsfragen, über die die Gerichte uneingeschränkt zu entscheiden haben. Sollte das Prüfungsprotokoll nicht den rechtlichen Anforderungen entsprechen, so wäre die Prüfungsentscheidung schon aus diesem Grunde wegen Verfahrensfehlers aufzuheben, ohne daß die Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen gerichtlich überprüft werden könnte oder müßte. Diese Frage ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Aussetzungsverfahrens. Der Senat braucht deshalb im Beschwerdeverfahren auch nicht darüber zu entscheiden, ob und in welchen Fällen ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren mit der Möglichkeit der Aussetzung des bereits anhängigen gerichtlichen Verfahrens gemäß § 74 FGO auch dann durchzuführen ist, wenn sich der Prüfling gegen die Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistungen wendet.

3. Da die Vorentscheidung auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, war sie aufzuheben. Es kann deshalb dahinstehen, ob der Aussetzungsbeschluß des FG auch deshalb rechtsfehlerhaft war, weil der Senatsvorsitzende, der zugleich Berichterstatter ist, gemäß § 79a Abs. 1 Nr. 1 FGO allein entschieden hat.

Eine Kostenentscheidung hat nicht zu ergehen, weil die Entscheidung über die Aussetzung nach § 74 FGO in einem unselbständigen Nebenverfahren ergeht (Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, 16, BStBl II 1988, 947 m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 419992

BFH/NV 1994, 912

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