Tz. 32

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Liegt die Offenbarung bzw. Verwertung im zwingenden öffentlichen Interesse, so ist sie nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO zugelassen. Das Gesetz führt neben der Generalklausel drei Fallgruppen auf, die Anwendungsbeispiele darstellen. Damit wird ein gewisser Anhaltspunkt dafür geliefert, von welchen Vorstellungen der Gesetzgeber hinsichtlich des Begriffs des zwingenden öffentlichen Interesses ausgegangen ist (BVerfG v. 06.05.2008, 2 BvR 336/07, NJW 2008, 3489). Das zwingende öffentliche Interesse nimmt der AEAO zu § 30, Nr. 11.10 z. B. an, wenn Straftaten verfolgt werden sollen, durch die geschützte Individualrechtsgüter eines Amtsträgers verletzt wurden, wenn sich die Straftaten gegen die Gesetzmäßigkeit des Steuerverfahrens als Ganzes richtet (AEAO zu § 30 Nr. 11.11: Straftaten im Vollstreckungsverfahren) oder wenn Insolvenzverschleppungsstraftaten zur Kenntnis gegeben werden sollen (AEAO zu § 30 Nr. 11.12). Dem ist im Ergebnis nur zum Teil zuzustimmen. Soweit sich die Straftaten gegen Amtsträger selbst richten, handelt es sich nach der in Rz. 13 vertretenen Auffassung schon dem Grunde nach nicht um geschützte Erkenntnisse, weil die Taten nicht im Verfahren bekannt werden, sondern nur gelegentlich des Verfahrens geschehen. Ob Erkenntnisse über Insolvenzstraftaten regelmäßig weitergegeben werden dürfen, erscheint deshalb zweifelhaft, weil das die Wirtschaftsstraftaten betreffende Regelbeispiel in § 30 Abs. 4 Nr. 5 b) AO weitere Anforderungen enthält. Ob diese vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls. Sind diese Anforderungen aber nicht erfüllt, liegt das Gewicht der Tat unter dem Regelbeispiel und diese kann somit keine schwere Wirtschaftsstraftat darstellen (Blesinger, wistra 2008, 416). Mag man auch im Ergebnis der Aussage im AEAO zu § 30, Nr. 11.12 zustimmen wollen, so handelt es sich inhaltlich um eine Entscheidung, die nur der Gesetzgeber treffen kann (s. § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO). Auch nicht der Verdacht jeder Straftat eines Amtsträgers rechtfertigt die Durchbrechung des Steuergeheimnisses. Selbst wenn man bei Antragsdelikten im Einzelfall ein öffentliches Interesse für die Verfolgung der Tat annimmt, ist das von § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO geforderte zwingende öffentliche Interesse nicht zwangsläufig gegeben (OLG Hamm v. 22.10.2007, 3 Ws 461/06, wistra 2008, 277). Zum zwingenden öffentlichen Interesse bei der Verletzung von Dienstpflichten s. BMF v. 12.01.2018, BStBl I 2018, 201.

 

Tz. 33

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Zunächst (§ 30 Abs. 4 Nr. 5a AO) ist ein zwingendes öffentliches Interesse hinsichtlich solcher Kenntnisse gegeben, die der Verfolgung von Verbrechen (s. § 12 Abs. 1 StGB) und vorsätzlichen schweren Vergehen gegen Leib und Leben oder gegen den Staat und seine Einrichtungen dienlich sind. Hierunter fallen in erster Linie Mord, Totschlag, Völkermord und die meisten der übrigen in § 138 StGB aufgezählten Straftaten. Gemeint sind insbes. solche Vergehen oder Verbrechen, die "an die Grundlagen der Rechts- und Staatsordnung rühren". Zu denken ist aber auch an Fälle der Misshandlung von Kindern oder Schutzbefohlenen (AEAO zu § 30, Nr. 11.13). In Anlehnung an § 23 Abs. 1 Nr. 4 BDSG n. F. werden nun auch die Fälle als Regelbeispiel in § 30 Abs. 4 Nr. 5a AO genannt, in denen die Offenbarung zur Abwehr erheblicher Nachteile für das Gemeinwohl oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die Verteidigung oder die nationale Sicherheit erforderlich ist. Werden nichtsteuerliche Straftaten im Zusammenhang mit einem Steuerstraf- oder Bußgeldverfahren wegen einer Steuerordnungswidrigkeit bekannt, greift bereits § 30 Abs. 4 Nr. 4 AO ein, sodass es auf das Vorliegen eines zwingenden öffentlichen Interesses nicht mehr ankommt.

 

Tz. 34

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ferner (§ 30 Abs. 4 Nr. 5b AO) ist das zwingende öffentliche Interesse hinsichtlich der Offenbarung solcher Kenntnisse zu bejahen, die für die Verfolgung solcher Wirtschaftsstraftaten erforderlich sind, die nach ihrer Begehungsweise oder wegen des Umfangs des durch sie verursachten Schadens eine erhebliche Störung der wirtschaftlichen Ordnung herbeiführen oder eine erhebliche Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder die ordnungsmäßige Arbeit der Behörden oder öffentlichen Einrichtungen verursachen können. Zum Begriff der Wirtschaftsstraftaten s. § 74c GVG (LG Göttingen v. 11.12.2007, 8 Kls 1/07, wistra 2008, 231). Die dort aufgeführten Straftaten fallen jedoch nur dann unter die Offenbarungsbefugnis, wenn die genannten erschwerten Voraussetzungen im konkreten Fall erfüllt sind (OLG Stuttgart v. 16.04.1986, 2 Ss 772/86, wistra 1986, 191). Damit ist es der Finanzbehörde versagt, gewöhnliche Betrugs-, Diebstahls-, Unterschlagungs- und Untreuefälle zur Anzeige zu bringen. Wegen der Insolvenzdelikte s. Rz. 32. Der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt ist der der Entscheidung über die Weitergabe der Informationen (FG BW v. 04.12.2013, 1 K 3881/11, EFG 2014, 798).

 

Tz. 35

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