Eich, Die Verwirkung im Steuerrechtsverhältnis, AO-StB 2006, 48.

 

Tz. 76

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Verwirkung ist ein Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlichen Tuns und greift ein, wenn ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs wegen Hinzutretens besonderer Umstände als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muss; es handelt sich dann um einen Verstoß gegen Treu und Glauben.

 

Tz. 77

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Gegenstand der Verwirkung können sowohl materielle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis wie der Steueranspruch, der Steuervergütungsanspruch oder der Haftungsanspruch, als auch Verfahrensrechte sein wie die Umsetzung eines Grundlagenbescheids oder die Befugnis, Einspruch einzulegen (Eich, AO-StB 2006, 48).

 

Tz. 78

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Ein bloßes Untätigbleiben einer Finanzbehörde reicht i. d. R. nicht aus, um einen Steueranspruch als verwirkt anzusehen (BFH v. 14.10.2003, VIII R 56/01, BStBl II 2004, 123 m. w. N.; BFH v. 18.03.2014, VII R 12/13, BFH/NV 2014, 1093); denn die zeitliche Grenze für die Festsetzung eines Steueranspruchs hat der Gesetzgeber in den Vorschriften über die Verjährung und die Ausschlussfrist festgelegt. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Stpfl. sich mit Rechtsbehelfen gegen eine Untätigkeit der Finanzbehörde zur Wehr setzen kann (Untätigkeitseinspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 2 AO, s. § 347 AO Rz. 27 ff.; Untätigkeitsklage gem. § 46 FGO, s. § 46 FGO Rz. 1 ff.).

 

Tz. 79

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Deshalb hat die Rechtsprechung eine Verwirkung des Steueranspruchs z. B. in folgenden Fällen abgelehnt:

In diesen Fällen muss zur Verwirkung ein Verhalten der Finanzbehörde hinzukommen, nach dem der Stpfl. darauf vertrauen durfte, dass er mit einer Steuerforderung nicht mehr zu rechnen braucht.

 

Tz. 80

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Die Verwirkung beruht also auf einem Zeitmoment – zeitweiliges Nichtstun des Anspruchsberechtigten – und auf einem Umstandsmoment, dem bestimmten Verhalten des Berechtigten, aus dem heraus der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (BFH v. 14.10.2003, VIII R 56/01, BStBl II 2004, 123 m. w. N.; BFH v. 21.02.2017, VIII R 45/13, BStBl II 2018, 4). Das verlangt die Kenntnis des Berechtigten von seinem Recht und die Möglichkeit, sein Recht auszuüben. Das Zeitmoment ist i. d. R. von untergeordneter Bedeutung, entscheidend ist das Umstandsmoment, wobei neben dem Verhalten des Berechtigten auch das Verhalten des Verpflichteten von Bedeutung ist (BFH v. 14.09.1978, IV R 89/74, BStBl II 1979, 121).

 

Tz. 81

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Zu diesem Vertrauenstatbestand muss hinzukommen, dass der Verpflichtete tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich z. B. durch Dispositionen darauf eingerichtet hat, dass ihm die Erfüllung des Anspruchs schlechthin nicht mehr zugemutet werden kann (Vertrauensfolge; u. a. BFH v. 14.10.2003, VIII R 56/01, BStBl II 2004, 123 m. w. N.).

 

Tz. 82

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Als Rechtsfolge hindert die Verwirkung die Ausübung eines Rechts oder einer Befugnis, führt aber nicht zum Erlöschen des Anspruchs oder Rechts.

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